| # taz.de -- Tee-Zeremonie in Ostfriesland: Wenn Kluntjes ihre Süße verbreiten | |
| > Für die „Teetied“ kehrt unsere Autorin gern in ihre Heimat zurück. Was … | |
| > damit auf sich hat, erklärt sie hier mundgerecht für Nichtfriesen. | |
| Bild: Als Erstes kommt dat Kluntje … | |
| Es gibt nicht viel, das ich an meiner Heimat vermisse. Für das Studium hat | |
| es mich vor zwei Jahren nach Berlin gezogen. Ich wollte dahin, wo was los | |
| ist. Wo Menschen sind. Wo es laut ist. Den meisten meiner Freund*innen | |
| ging es genauso, viele zogen weg, heute sind wir in ganz Deutschland | |
| verteilt. Aber zur Teetied kehren wir gerne zurück. | |
| Unsere Heimat, das ist Rhauderfehn, eine Gemeinde [1][in Ostfriesland]. Es | |
| ist eine seltsame Gegend. Ostfriesland ist besonders flach, hat viele Kühe, | |
| man spricht Platt und es wird den ganzen Tag Tee getrunken – diese | |
| Klischees stimmen alle. Besonders das mit dem Tee wird sehr ernst genommen. | |
| Es heißt schließlich nicht ohne Grund ostfriesische Teezeremonie und nicht | |
| Teeritual oder -brauch. Das Regelwerk ist klar und streng. Die | |
| traditionelle Teetied ist uns heilig. | |
| Tee ist eine Leidenschaft der Ostfriesen, die sich durch alle Generationen | |
| zieht. Wir wachsen mit dieser Tradition auf. Sie ist fest in uns | |
| verwurzelt, bis zu vier Mal am Tag gibt es Tee, die letzte Tasse wird oft | |
| erst nach dem Abendessen getrunken. Ich frage mich manchmal, ob der | |
| exzessive Schwarzteekonsum in Kindertagen negative Effekte auf uns hatte. | |
| Eine Tasse kriegt mich heute auf jeden Fall nicht mehr wach – vier auch | |
| nicht. | |
| Neulich war ich nach langer Zeit wieder in Ostfriesland zu Besuch. Auch | |
| viele meiner Freund*innen sind aus ihren Städten gekommen, andere waren | |
| nie weg. Es ist Samstagnachmittag. 15 Uhr, um genau zu sein. Teetied als | |
| Zeremonie ist nämlich immer um 15 Uhr. Der Himmel ist wolkenlos, die Blumen | |
| im Garten blühen um die Wette. | |
| Wir treffen uns bei den Eltern einer Freundin. Auf der Terrasse ist ein | |
| langer Tisch aufgebaut, darauf das Ostfriesland-Starterpack, das in keinem | |
| guten Haushalt fehlen darf. Es besteht aus einem Teepott mit Stövchen, | |
| mindestens sechs Teetassen (Bonuspunkte, wenn die ostfriesische Teerose | |
| darauf abgedruckt ist), Sahne, Kluntje (also Kandiszucker) – und natürlich | |
| Ostfriesentee, eine Mischung verschiedener Schwarzteesorten, hauptsächlich | |
| Assam. | |
| An diesem Tag ist der Tisch besonders schön. Die kleinen weißen Tassen | |
| tragen filigrane geometrische Verzierungen am Rand. Es sind nicht die | |
| typischen Tassen mit dem blauen Muster, sie sind moderner, simpler, aber im | |
| Herzen noch immer dieselben. Weil wir so viele sind, gibt es zwei Teepötte, | |
| zwei Kännchen Sahne und eine riesige Schale mit Kluntjes. Und auch Süßes | |
| darf bei keiner Teezeit fehlen. In unserem Fall [2][sind es Zimtschnecken] | |
| und Käsekuchen. | |
| ## Die Kluntjes kommen zuerst | |
| Das Servieren von Ostfriesentee folgt einer ganz bestimmten Reihenfolge. | |
| [3][Zuerst kommen die Kluntjes in die Tasse]. Darüber wird dann der heiße | |
| Tee gegossen, damit die Kluntjes knacken und zerspringen. | |
| Auch unser Gespräch folgt einem ritualisierten Ablauf. Der Anfang ist immer | |
| schwer, man hat sich so lange nicht gesehen, dass man gar nicht weiß, was | |
| man fragen soll. Wir greifen auf Smalltalk zurück: „Wie läuft das Studium?�… | |
| „Wie geht es deinen Eltern?“ oder, wenn gar nichts mehr geht: „Das Wetter | |
| ist aber schön heute.“ Oh ja, die wortkargen Norddeutschen. Ein weiteres | |
| Klischee, das wir erfüllen. | |
| Doch so wie das Kluntje im Tee langsam seine Süße verbreitet, kommt auch | |
| das Gespräch ins Rollen. „Habt ihr das eigentlich mitbekommen …?“ Der he… | |
| Klatsch und Tratsch aus dem Dorf ergießt sich über den Tisch. Ein Wirrwarr | |
| aus Sätzen wie: „Das hätte ich gar nicht von dem erwartet“, „Das muss w… | |
| jede*r selbst wissen“ oder „Ich will ja nicht urteilen, aber …“. | |
| ## Im Tee müssen Wölkchen sein | |
| Auf den Tee folgt die Sahne. Diese wird mit einem speziellen, fast | |
| suppenkellenartigen Löffel am Rand der Tasse entlang gegen den | |
| Uhrzeigersinn in den Tee gegeben. Ganz vorsichtig. Denn wenn man das | |
| richtig macht, verteilt sich die Sahne in kleinen weißen Wölkchen im Tee. | |
| Wir gießen gegen den Uhrzeigersinn, um die Zeit zurückzudrehen. Bei jeder | |
| Teezeremonie reisen wir zurück ins 17. Jahrhundert, wo das ostfriesische | |
| Teetrinken seinen Ursprung hatte. Der erste Tee fand wohl auf den Schiffen | |
| der niederländischen Ostindien-Kompanie seinen Weg hierher. Wir drehen die | |
| Zeit zurück in die Jugend unserer Großeltern, als sie sich quatschend und | |
| tratschend um den Tisch versammelten, so wie wir heute. Und wir drehen | |
| unsere eigene Zeit zurück, verlieren uns in Geschichten. Blöde | |
| Lehrer*innen in der Schule, merkwürdige Pärchen im Jahrgang. Manche von | |
| uns kennen sich schon seit der Grundschule oder dem Kindergarten. Die | |
| Wölkchen erscheinen im Tee, wie die kleinen Erinnerungen, die wir teilen. | |
| Der Tee darf dabei auf gar keinen Fall gerührt werden. Er wird in Schichten | |
| getrunken. Zuerst schmeckt man die Sahne, dann den bitteren Tee in all | |
| seiner Stärke. Der letzte Schluck der Tasse bleibt aber der beste. Er | |
| besteht zu 90 Prozent aus Kluntje – ist also quasi nur Zuckerwasser. Das | |
| mochte ich als Kind besonders gerne. Wenn man schnell genug trank, hatten | |
| sich die Kluntje noch nicht vollständig aufgelöst und man konnte die | |
| kleinen Zuckersteinchen zerkauen. | |
| Der letzte Schluck Tee in der Tasse ist also unser süßes Ende. Wir sitzen | |
| alle gemeinsam am Tisch und werden nostalgisch. „Die alten Zeiten“, mit | |
| Anfang 20 hören wir uns schon an wie unsere Eltern. Wenn es ums Teetrinken | |
| geht, sind wir auch wie unsere Eltern. Und unsere Großeltern. Und die | |
| Eltern unserer Großeltern. | |
| ## Drei ist Ostfriesenrecht | |
| Aber Schluss ist noch lange nicht. Eine Teezeremonie ist nicht von kurzer | |
| Dauer. Jede*r muss mindestens drei Tassen getrunken haben, weniger gilt | |
| als unhöflich. Drei ist eben Ostfriesenrecht. | |
| Für uns ist das nicht schwer. Wie das so ist unter alten Freund*innen | |
| drehen sich unsere Gespräche schnell im Kreis. Mit jeder Tasse leiten wir | |
| einen neuen Erinnerungszyklus ein. | |
| Bleibt nur noch eine Frage: Wieso gibt es eigentlich spezifisch | |
| ostfriesische Teelöffel, wenn es doch streng untersagt ist, den Tee zu | |
| rühren? Sobald man den Löffel in die Tasse legt, zeigt man der | |
| Gastgeber*in, dass man keinen Tee mehr möchte. Liegt er neben der Tasse, | |
| wird immer wieder nachgeschenkt. Die letzten Kluntjesreste können natürlich | |
| auch mit dem Löffel in den Mund befördert werden. | |
| Nach einem langen Nachmittag und definitiv mehr als drei Tassen legen wir | |
| nun unsere Löffel in die Tassen. Es war schön. „Ich sollte öfter Tee | |
| trinken“, denke ich. Aber ich bin so selten in der Heimat. | |
| Zwei Tage später schleppe ich einen metallenen Teepott und sechs | |
| Porzellantassen samt Tellern durch die Bahn. Die Frage ist nur, ob es mir | |
| in Berlin genau so schmecken wird? Eine wesentliche Zutat des | |
| Ostfriesentees ist schließlich auch das besonders weiche Wasser in | |
| Ostfriesland. Ich werde ein paar Freund*innen einladen und es versuchen. | |
| Aber vielleicht ist es auch gut, wenn es Dinge gibt, die man nur in der | |
| Heimat machen kann. | |
| 6 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Regina Roßbach | |
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