| # taz.de -- Dystopisches Theater in Frankfurt: Der Hang, der zu rutschen droht | |
| > Zum Spielzeitauftakt hat das Schauspiel Frankfurt zwei Stücke in Auftrag | |
| > gegeben. Es geht um Dystopien der Gegenwart – ewiges Leben und | |
| > Zeitenwenden. | |
| Bild: Eigenartiges Tableau des Untergangs: Nina Wolf vorne in „So langsam, so… | |
| Mit zwei Uraufführungen, die von unserer Gegenwart erzählen, startet das | |
| Schauspiel Frankfurt in die neue Saison. Zwei Männer, Ferdinand Schmalz und | |
| Björn SC Deigner, wurden beauftragt, Stücke zu schreiben, an zwei | |
| aufeinanderfolgenden Abenden kamen sie nun zur Aufführung. Was soll man | |
| sagen? Es steht nicht gut um uns! | |
| Der [1][Österreicher Schmalz] führt uns in eine seltsame Klinik am See, das | |
| „Sanatorium zur Gänsehaut“, wo man sich das Leben von der Haut spritzen | |
| lassen kann und auch sonst alles tut, was zu vermeintlicher Schönheit und | |
| Langlebigkeit führt. Ein unheimlicher Ort, an dem Dr. Klotz (Wolfram Koch) | |
| mit Nacktmullen experimentiert, eine Beautyinfluencerin (Anabel Möbius) | |
| sich die Haut blutig peelt und eine Pharmatante namens Hannelore | |
| Krautwurm-Bouillon Diätpillen unters Volk mischt. | |
| Ein kleiner Horrorladen, und Schmalz apostrophiert das Ganze auch als | |
| Grusical. Dafür hat er sich einige Lieder ausgedacht, die Carolina Bigge | |
| als Schlagerparade anrichtet. [2][Regisseur Jan Bosse] wiederum übergeht | |
| die Regieanweisung, dem Publikum Gänsehaut beizubringen, und setzt auf | |
| bunte Unterhaltung. Moritz Müller hat ihm dafür eine flauschige Insel in | |
| eine Wasserlandschaft gesetzt, ein Rondell der Eitelkeiten, in das sich die | |
| investigative Journalistin Lio Laksch (Lotte Schubert) wie in einem | |
| Höllenschlund verirrt. Statt um Panama Papers geht es hier um Beauty | |
| Papers. | |
| ## Kontrolle über den eigenen Körper | |
| Das loriotartig arrangierte Personal des Stücks täuscht nicht über den | |
| ernsten Kern hinweg, zielt der ganze Schönheitswahn doch auf die | |
| Verfallserscheinungen einer Welt, in der Autokraten und [3][Techmilliardäre | |
| sich für Longevitykonzepte] begeistern und viele, die über vermeintlichen | |
| politischen Kontrollverlust klagen, sich kräftig abmühen, wenigstens | |
| Kontrolle über den eigenen Körper zu erlangen. | |
| Das alles wäre freilich nichts ohne das bestens gelaunt aufspielende | |
| Ensemble, von Kathrin Plath in herrlich aberwitzige Kostüme und knatschenge | |
| Anzüge gesteckt. Melanie Straub als fettfreie Emma Tiefenbach und ihr | |
| Diener Anton (Christoph Pütthoff) führen das farbenfrohe Sanatorium an. | |
| Doch so unterhaltsam das klingt, es zieht sich, mehr als zwei Stunden | |
| plätschert die Inszenierung vor sich hin, immer wieder von hinreißenden | |
| Nummern unterbrochen, in denen etwa Torsten Flassig als Opernsänger ohne | |
| Stimme bäuchlings in den Pool platscht oder die unnachahmliche Anna Kubin | |
| als Privilegienkönigin vollmundig „I Deserve It“ singt. | |
| Sie ist es auch, die den schönen Satz: „Ich würde mein Leben geben, um ewig | |
| zu leben“, herausknödeln darf. Solche fein gemeinen Pointen hält der Text | |
| einige bereit, doch Jan Bosse setzt dem inszenatorisch wenig hinzu. Es | |
| reicht einfach nicht, die Figuren im Lotussitz alleine zu lassen, um | |
| heutige Achtsamkeitsrituale aufs Korn zu nehmen. Man hätte sich das Ganze | |
| um einiges schräger oder angesichts des schrägen Textes auch viel | |
| ernsthafter vorstellen können, doch der Abend verharrt in stabiler | |
| Mittellage. | |
| ## Expressionistisch angeschrägte Bühne | |
| Auch im Falle von [4][Björn SC Deigner]s „So langsam, so leise“ hat man den | |
| Eindruck, dass da womöglich mehr drin gewesen wäre. Dabei sind Deigner und | |
| [5][Regisseurin Luise Voigt] ein eingespieltes Team, mit „Die Gewehre der | |
| Frau Carrar/Würgendes Blei“ waren sie in diesem Jahr zum Berliner | |
| Theatertreffen eingeladen. Dort sprachen Gegenstände, diesmal schalten sich | |
| Hund und Regen ein. Im Mittelpunkt stehen ein demenzkranker Vater (Matthias | |
| Redlhammer) und seine auf Besuch bei ihm wohnende Tochter (Amelle Schwerk). | |
| Die Bühne ist expressionistisch angeschrägt (Maria Strauch), Moos überzieht | |
| die Wände, draußen plärrt der Regen, und dieser eröffnet den Abend auch in | |
| Gestalt von Nina Wolf, die eine Wolke mit Regenschnüren performt, eine | |
| schöne Idee, doch die Ausführung gerät langatmig. | |
| Wolf bleibt zappelnd präsent, kommentiert das Geschehen, spricht | |
| Regieanweisungen und innere Monologe der Figuren und vollführt dazu eine | |
| Art Gebärdensprache und allerlei akrobatische Körperverdrehungen: ein | |
| Fremdkörper, der den Realismus der Geschichte bricht, ein | |
| Verfremdungseffekt wie der später auftauchende Hund, ein zotteliges Etwas, | |
| den Max Levy mit augenrollendem Grimassenspiel tanzt. | |
| ## Das Ende naht | |
| Interessanter das Verhältnis von Vater und Tochter: er ein dem | |
| Wissenschaftler Harald Haarman nachempfundener Mann, der sich mit einer | |
| frühen Hochkultur, der sogenannten Donauzivilisation, beschäftigt. Immer | |
| wieder sprechen Vater und Tochter von einem Hang, der zu rutschen droht. | |
| Das Ende naht, Klimawandel, Zeitenwende. Voigt nimmt sich dafür viel Zeit, | |
| belässt vieles im Halbdunkel und verhindert wie Jan Bosse nicht, dass die | |
| Minuten zäh fließen. | |
| Die verhandelten Verlusterfahrungen fügen sich trotzdem zu einem | |
| eigenartigen Tableau des Untergangs. Das Schönste geschieht, als Vater und | |
| Tochter am Tisch sitzen und nicht mit ihren eigenen Stimmen, sondern mit | |
| Kinderstimmen aus dem Off sprechen: sie, weil sie nicht aus ihrem | |
| Kinderdasein herausfindet, er, weil er sich zum Kind zurückentwickelt. Ein | |
| zauberhaft gespenstischer Moment. | |
| Dass Deigner und Voigt ebenfalls mit Hörspielen Erfolge feiern, hört man | |
| auch ihrem neuen Abend an. Ein Projektor für Super-8-Filme rattert Bilder | |
| auf die rückwärtige Wand. Allein das Geräusch zu hören, gleicht einer | |
| Zeitreise. Dabei funktioniert das Stück wie ein Requiem, ein Abgesang auf | |
| eine Zeit und auf ein Leben und vielleicht auch auf unsere Welt. Da wünscht | |
| man sich am Ende fast einen der schnipsenden Schlager vom Vorabend herbei. | |
| Wenn schon Untergang, dann mit Schwung. | |
| 17 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Shirin Sojitrawalla | |
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