# taz.de -- Shifting Baselines: Klimaanpassung in ihrer absurderen Version | |
> Ein Waldbrand ist schlimm, zwei Feuer sind schlimmer. Wenn aber drei | |
> Brände das neue Normal sind, muss sich niemand mehr über das vierte | |
> aufregen. Oder? | |
Bild: Scheiße viel zu trocken hier in Lappland | |
Das größte Problem mit der Ausrüstung war in diesem Jahr eine zerbrochene | |
Sonnenbrille. Wenn wir sonst [1][in Lappland wandern] waren, fluchten wir | |
über nasse Stiefel, verregnete Wochen, verschneite Wanderwege. In diesem | |
Jahr erwischte uns eine Hitzewelle, [2][die uns an Südfrankreich | |
erinnerte.] Sie nützte auch den Mücken, weil wir T-Shirts und kurze Hosen | |
trugen. An manchen Abenden fragten wir uns, warum wir eigentlich in die | |
Sauna gehen sollten, wenn wir doch auch im Zelt schwitzten. | |
Der Klimawandel, so eine Studie, [3][hat die diesjährige Wärme in der | |
Arktis zwei Grad wärmer und zehnmal wahrscheinlicher] gemacht. Und wissen | |
Sie was: Ich habe jeden Tag davon genossen. | |
Selbstverständlich hatte ich dabei ein schlechtes Gewissen. Aber dann | |
[4][dachte ich plötzlich wie die CDU]: Ändern kann ich daran sowieso | |
nichts. Und wenn ich mich ärgere, hilft das auch niemandem. Wem seit mehr | |
als zwanzig Jahren beim Schreiben über die Klimakrise der Schreck in die | |
Glieder fährt, der kann sich doch auch mal an ein paar hellen und warmen | |
Nächten unter der Mitternachtssonne erfreuen, oder? Danke für Ihr | |
Verständnis. | |
Aber na ja. Sobald ich dann nach der Mücken- noch die Sonnencreme | |
aufgetragen hatte und die geflickte Sonnenbrille aufsetzte, dachte ich: | |
Unglaublich, wie schnell wir uns an Zustände gewöhnen, die wir früher für | |
unmöglich und untragbar hielten. | |
## Alltäglicher Wahnsinn | |
Wer die Berge liebt, hat sich mit dem [5][Verschwinden der Gletscher] | |
abgefunden. Wer am Meer Urlaub macht, findet den [6][Plastikmüll am Strand] | |
ganz normal. Wer wandern will, informiert sich über das Waldbrandrisiko. | |
Vom anderen alltäglichen Wahnsinn mal ganz abgesehen, der normal geworden | |
ist: bei den [7][Verbrechen in der Ukraine], in Gaza und in der | |
Bananenrepublik USA. | |
Die schleichende Anpassung an den Irrsinn heißt in der Wissenschaft | |
„shifting baselines“. Wir gewöhnen uns an furchtbare Zustände als | |
Normalzustand und vergessen, was wir auf dem Weg dahin verloren haben. Also | |
finden wir und die nächsten Generationen es ganz normal, dass [8][die | |
Städte zu heiß zum leben] werden, weil wir sie sowieso schon den Autos als | |
Lebensraum überlassen haben. | |
## Seufzen und hinnehmen | |
Wir regen uns nicht auf darüber, dass wir jedes Jahr fast 60 Milliarden | |
Tonnen Treibhausgase in die Luft blasen, obwohl wir unseren Reichtum auch | |
anders sichern könnten. Wir akzeptieren, dass [9][diese Bundesregierung die | |
Energiewende abwickelt] und den Klimaschutz als Gedöns in die Rumpelkammer | |
stellt. Wir seufzen leise und bleiben vernünftig, wenn es vernünftiger | |
wäre, unvernünftig zu werden. | |
Was wir praktizieren, ist die schlimmste Form von Klimaanpassung: die Übel | |
annehmen, als wären sie der Normalzustand. Den Verlust unserer | |
Lebensbedingungen hinnehmen, aus lauter Bequemlichkeit. Vor dem | |
[10][Raubbau an den Ozeanen], Wäldern und Böden, vor der Plastikpest, vor | |
der im Wortsinn fossilen Verwüstung, vor der Verachtung für menschliches | |
Leid und der Ignoranz des Immer-weiter-so und Immer-noch-mehr zu | |
kapitulieren, weil es irgendwie normal ist. | |
Meine Güte. Ein paar Wochen außerhalb des alltäglichen Hamsterrads und | |
schon kommen mir solche Gedanken. Gut, dass die Arbeit wieder losgeht. | |
29 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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