| # taz.de -- Die Wahrheit: Tapferer Schattenspender | |
| > Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Originale“ (4): das längst überfällige | |
| > und notwendige Lob der Markise. | |
| Bild: Unter der Markise lässt es sich leben | |
| Es gibt Menschen oder Dinge, die sind einzigartig. Wahre Originale oder | |
| Unikate. Die herausragen aus dem flachen Tal des grauen Alltags. Und | |
| dennoch nicht sofort in ihrer außergewöhnlichen Schönheit oder | |
| überraschenden Wirksamkeit erkannt werden. Aber dafür gibt es ja die | |
| Wahrheit. Die einige Exemplare dieser irisierenden Ausnahmeerscheinungen | |
| ins strahlende Licht der Wahrnehmung rückt. | |
| Die Menschen malen den Sommer in den ödesten Bildern. Wäsche, die in der | |
| Sonne auf der Leine trocknet? Schnarch! Süßer Saft, der aus einem | |
| angebissenen Plattpfirsich über die Hand rinnt? Kitsch! Blumen, die am | |
| Rande des Feldwegs im Wind wiegen? Naiv! Eskapistisch! Schlicht doof! Das | |
| einzig wahre Symbol des Sommers ist die Markise. | |
| Nirgendwo schmeckt der Erdbeerkuchen besser als unter der Markise. | |
| Nirgendwo summen die Wespen schöner als unter der Markise. Hier staut sich | |
| die Luft, und man freut sich drüber. Man sitzt auf der Terrasse und tut | |
| nichts, und über einem klappert die Markise. Denn unter der Markise wird | |
| nichts getan. Hier ruht die Arbeit. Bewerbungsschreiben? Steuererklärung? | |
| Homeoffice? Nein. Beziehungsweise ja, aber nicht unter der Markise. | |
| Von vorne! Markisen sind herzensgute Objekte. Ihr wackeliges Gestell zum | |
| Ausfahren ist beinahe anrührend. So schwache Arme aus Aluminium hat sie, | |
| dass ein leichter Windstoß ihr gefährlich wird. Aluminium ist ein Material, | |
| mit dem für gewöhnlich angefangene Quarkspeisen oder Nudelsalate abgedeckt | |
| werden. Hier aber stemmt es sich tapfer und mit aller Kraft gegen den | |
| Sommerwind. Eine kleine Böe reicht, und schon knacken die Gelenke. Es | |
| könnten einem die Tränen kommen. | |
| ## Zeichen des Friedens | |
| Am Abend, wenn nach dem heißen Tag ein Sommergewitter aufzieht und die | |
| Servietten schon vom Tisch wehen, sieht man den Kellner herauseilen und die | |
| Markise einfahren. Manchmal geht das per Fernbedienung, manchmal aber nur | |
| von Hand durch eine interessante Kurbeltechnik. Immer im Kreis herum muss | |
| man kurbeln, mit beiden Händen an der Kurbelstange. Ein Manöver, bei dem | |
| man sich leicht den Arm auskugeln kann. | |
| Ach, Markisen! Sie sind ein Zeichen des Friedens. Im Ferienort sitzen alle | |
| unter der Markise des Eiscafés. Sogar der strenge Familienvater isst hier | |
| vergnügt eine Portion Spaghetti-Eis und hat die sogenannten Spendierhosen | |
| an. „Magst du noch eine Kugel?“, fragt er die Tochter, die dankend abwinkt. | |
| Sie kämpft schon mit dem Becher Bananensplit. Vor ihr liegen drei | |
| Vanillekugeln zwischen einer zerteilten Banane; über ihr ruht die Markise. | |
| Vor jedem Eiscafé hängt mindestens eine, meist eine rot-weiß-gestreifte. | |
| Die rot-weiß-gestreifte Markise vor dem Eisladen gilt als Prototyp jedes | |
| Streifenmusters. Noch der Nadelstreifenanzug der Unternehmensberaterin | |
| wiederholt nur das Muster, unter dem sie als Kind eine Kugel Vanille im | |
| Hörnchen bestellte. | |
| ## Wunder der Baukunst | |
| O, Markisen! Früher waren sie unangefochtene Schattenspender. Heute meinen | |
| viele Menschen, Markisen seien von gestern. Menschen, die sich | |
| fortschrittlich wähnen, machen im Baumarkt einen großen Bogen um sie. Nur, | |
| was kaufen diese Menschen stattdessen? Eine Pergola. In der Farbe | |
| Anthrazit. Pergolas sind sehr schön, wenn sie in Italien stehen und der | |
| Wein über ihr Holzgerüst wächst. In deutschen Gärten aber umgibt sie immer | |
| ein Hauch von Baumarktkatalog. | |
| Die Pergola ist der Gartenzwerg der Besserverdienenden. Unter der Pergola | |
| fragt die Patentante den zwölfjährigen Jungen, was er werden will, Arzt | |
| oder Anwalt? Unter einer Markise würde so etwas nicht passieren. Es lebe | |
| die Markise! Wenn es im Sommer regnet, klopfen die Tropfen gemütlich auf | |
| ihren Stoff. „Ein Landregen!“, sagt der Onkel am Tisch mit Erklärstimme, | |
| und alle nicken. Es ist aber nur ein Schauer. | |
| Vor Schauern schützen auch Markisen verlässlich. Fast waagerecht stehen | |
| diese Wunder der Baukunst von der Hauswand ab, ganz ohne Säulen und | |
| Stützen. Kein Mensch weiß, wie das hält. Zimmerleute und Dachdecker | |
| brauchen Tage, Wochen, Monate, bis sie ein Dach gebaut haben. Die Markise | |
| dagegen ist in einer Minute ausgefahren. | |
| Die schönste Markise aber ist die einfarbig rote Markise. Sie taucht die | |
| Welt unter ihr in ein unwirkliches Licht. Einmal geschah es, dass jemand | |
| seine Kugel Erdbeereis in der weißen Schüssel nicht wiederfand, weil alles | |
| im selben Rot leuchtete. | |
| 5 Sep 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Paul Amsel | |
| ## TAGS | |
| Sommer | |
| Eis | |
| Garten | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| Linguistik | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die Wahrheit: Hände hoch! Massage! | |
| Wer sich lieb hat, greift zur Massagepistole: mit ihr hat die gewaltvolle | |
| Gesellschaft ihren Stellvertreter in der sanften Massagesphäre gefunden. | |
| Die Wahrheit: Der Wäschesack ist ein alter Sack | |
| Bahnbrechend Neues aus der Sprachforschung: Der Ursprung aller Sätze – | |
| jetzt überraschend in Hannover entdeckt! | |
| Die Wahrheit: Schwer unter Kartoffeldruck | |
| Die vorgezogene und nächste Bundestagswahl ist handgemacht: Auf Besuch in | |
| Raum 23.2. der Volkshochschule Oer-Erkenschwick. |