| # taz.de -- Die Wahrheit: Rubbellos über den Wolken | |
| > Einfach mal einen Kaffee im Flieger bestellen, ohne Flugscham und ohne | |
| > sozialen Druck. Wenn das nur so einfach wäre, wie es nicht ist. | |
| Auf dem Rückflug bestelle ich einen Kaffee. Als ich der Flugbegleiterin | |
| meine EC-Karte rüberreiche, fragt sie so laut, dass es jeder im Umkreis | |
| hört, ob ich einen Euro für „sick children“ spenden möchte. Dafür bekä… | |
| ich dann so eine Art Rubbellos, dessen Erlös besagten „sick children“ | |
| zugute käme, damit sie weniger „sick“ wären – so ganz genau hab ich das | |
| alles aber nicht verstanden, ist ja auch auf Englisch. | |
| „Könnten Sie bitte etwas leiser sprechen?“, frage ich. Ich möchte meine | |
| Entscheidung unbeeinflusst von öffentlicher Meinungsmache treffen. Denn ich | |
| fühle mich hier schon ein wenig überrumpelt. Das ist Erpressung durch | |
| sozialen Druck. Ich will doch nur einen Kaffee. Mein Zögern aber kommt | |
| jetzt wahrscheinlich eins zu eins so rüber, als ob ich sage, „nein, danke – | |
| ich hasse sick children; sick children können mir gestohlen bleiben, oder | |
| von mir aus sick, und zwar forever“. | |
| Aber wie sähe das denn aus, noch dazu hier oben im Flugzeug, wo der Himmel | |
| so nah ist. Wir befinden uns quasi in der guten Stube vom lieben Gott, der | |
| nun logischerweise alles noch viel besser hört und sieht als sowieso schon, | |
| der alte Luchs. Gerade er auf seinem notorischen | |
| „Ihr-Kinderlein-kommet“-Trip wird dann bestimmt auch mächtig den Kopf | |
| darüber schütteln, was ich denn für ein Mega-Arsch bin – dabei ist das doch | |
| alles nur ein Missverständnis. Und außerdem mein gutes Recht. Ich kann hier | |
| ja wohl einfach nur mal einen Kaffee kaufen. Oder? | |
| Die Stewardess spricht aber nicht leiser, und ich habe das Gefühl, die | |
| anderen Passagiere drehen sich schon zu mir um. Die Glücklichen waren | |
| nämlich nicht so leichtsinnig, etwas zu bestellen, und nun wollen sie | |
| wissen: Wie sieht eigentlich so ein erbärmliches Schwein aus, das sich aus | |
| dem tiefsten Höllenschlund seines nachtschwarzen Herzens heraus den Tod | |
| unschuldiger Kinder wünscht? | |
| ## Angenehmer Grusel | |
| Aus ihren Augen spricht die Neugier derer, die im Gerichtssaal auf den | |
| Zuschauerbänken sitzen. Der angenehme Grusel, den sie beim Anblick eines | |
| Übeltäters empfinden, dessen bloße Existenz sie wiederum in ihrem eigenen | |
| Wohlverhalten bestätigt, steht für eine zentrale Wechselwirkung, mit der | |
| sich unsere Gesellschaftsordnung stets aufs Neue rückversichert: Ohne die | |
| Bösen gäbe es keine Guten. Die Strafe für die einen ist zugleich schon die | |
| Belohnung für die anderen. | |
| Manche wenden sich enttäuscht wieder ab. Ich habe keine Hörner oder | |
| Bocksfüße, ja, nicht mal einen sonderlich markanten Schwanz. Was die | |
| Ästhetik des Bösen betrifft, sind sie offenbar noch in den Sehkonventionen | |
| zu Zeiten Hieronymus Boschs steckengeblieben. | |
| Aber gut, dann zahle ich den Euro. Ich habe keine Lust, nach der Landung | |
| gelyncht zu werden. Außerdem kann ich mein würdeloses Einknicken vor mir | |
| selbst als praktischen Move verkaufen: Das Rubbellos landet als Lesezeichen | |
| in dem Buch, das vor mir auf dem ausgeklappten Tischchen liegt. Es trägt | |
| den Titel: „Ein falsches Wort.“ | |
| 28 Aug 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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