# taz.de -- Die Wahrheit: Gebrauchsanweisung für meine Eltern | |
> Um den Nachwuchs zu verstören, entwickeln gerade betagte Altvordere | |
> höchst originelle Zwangshandlungen. | |
Bild: Ganz hinten im Geschirrspüler schlummern die Urängste | |
Wie das Wort bereits nahelegt, werden meine Eltern immer älter. Bereits | |
angelegte schrullige Tendenzen verhärten sich dabei zu den absonderlichsten | |
Marotten. Dem liegt der an sich verständliche Wunsch zugrunde, die | |
Herausforderungen des Alltags zu zähmen, zu ordnen und zu ökonomisieren. | |
Zu diesem Zweck werden sämtliche Verrichtungen in immer skurrilere Korsette | |
aus festgelegten Handlungsmustern gezwängt, die so wenig Spielraum lassen, | |
dass selbst religiöser Fundamentalismus dagegen wie der unverbindliche | |
Vorschlag eines bekifften Freaks wirkt. | |
Dabei gibt es, wie auch im Ursprung aller Religionen, vergraben unter all | |
dem erstarrten Mumpitz, stets auch Restspuren praktischer Bezüge. Da meine | |
Mutter zusehends erblindet, ist es tatsächlich sinnvoll, die | |
Küchenutensilien immer genau am gleichen Ort zu platzieren. | |
## Notbefugt am Fremdgerät | |
Doch in den meisten Fällen frisst der Wahn den Nutzen. So scheint für meine | |
Eltern – scheiß auf Atomkrieg oder Tod – die schlimmste Vorstellung | |
überhaupt zu sein, der Wasserkocher könne verkalken. Ursache der | |
Katastrophe ist, wie sie nicht müde werden zu betonen, das in ihrer Region | |
besonders kalkhaltige Wasser. Dabei schimmert stets eine Art diebischer | |
Stolz durch, wie auf ein unberechenbares, aber irgendwie talentiertes | |
Pferd, das nur sie allein beherrschen können. | |
So wird dem nur notbefugten Gerätfremden vor jeder Benutzung im Duktus | |
eines Kampfmittelbeseitigungsmeisters gegenüber seinem Lehrling | |
eingeschärft, die zu kochende Wassermenge exakt abzumessen. Als | |
Abfallprodukt eines allzu fahrlässigen Messvorgangs eventuell vorhandenes | |
Restwasser – was ja in Gottes Namen vorkommen kann, wenn auch eigentlich | |
nicht darf – muss nach Gebrauch des Kochers umgehend entsorgt werden, da im | |
Falle der Nichtbeachtung die Verkalkung auf der Stelle mit der Wucht eines | |
Naturdesasters einsetzt. | |
Extrem tricky ist für Uneingeweihte auch das korrekte Befüllen der | |
Spülmaschine. Jedes Teil hat exakt seinen Platz, andernfalls explodiert | |
wahrscheinlich alles. Kein unbeholfener Versuch Normalsterblicher findet | |
vor den Augen meines Vaters Gnade, der wegen des Zustands meiner Mutter zum | |
alleinigen Herrn über die Teufelsmaschine aufgestiegen ist. Das Runde muss | |
ins Eckige, das Eckige ins Runde, oben kommen die Sachen für unten rein, | |
und unten die für oben. Ausnahmen oder Änderungen sind nicht vorgesehen, | |
untersagt, verboten. | |
## Verunsichert am Besteckkorb | |
Neuerdings fährt mein sonst eher gutmütiger Vater mich grob an, sobald ich | |
auch nur einen Teelöffel eigenständig in den Besteckkorb stellen will. Das | |
nehme ich aber nicht persönlich, denn ich weiß, dass älteren Menschen | |
zunehmend die Modulationssteuerung ihrer Gefühlsäußerungen verschüttgeht. | |
Werden ihre Routinen gestört, bricht sich recht unkontrolliert eine tiefe | |
Verunsicherung Bahn, die seit Kindestagen in ihnen schlummert. Die | |
Unordnung triggert Urängste. So weckt die falsch eingeräumte Untertasse | |
vermutlich Erinnerungen an Bombennächte, Flucht und Vertreibung. | |
Noch mehr kann man beim Einkauf falsch machen. Biete ich meine Hilfe an, | |
empfiehlt es sich dringend, sämtliche Anweisungen akribisch zu befolgen. | |
Alles andere wäre nämlich ein Anschlag auf das seelische Wohlbefinden | |
meiner Eltern. | |
Denn auch der richtige Käse, die richtigen Kartoffeln, das richtige Brot | |
müssen im jeweils dafür vorgesehenen aka „richtigen“ Geschäft besorgt | |
werden – anderes kann man im Grunde nicht essen. Warum es überhaupt weitere | |
Waren gibt, und wer die kauft, weiß man nicht und möchte es lieber auch | |
nicht wissen. Bestenfalls sind solche Menschen harmlos, aber äußerst dumm. | |
## Nur richtig vom Hutzelweiblein | |
Das richtige Brot wird morgens in der Bäckerei bestellt. Man lässt es sich | |
zurücklegen, damit es kein Unbefugter stiehlt. Denn nichts anderes als | |
Diebstahl wäre das, zwar nicht am Bäcker, aber an meinen Eltern. Für den | |
richtigen Käse steht man am Markttag am richtigen Stand an, wo man immer | |
den gleichen Käse kauft. Der Käse ist gut. Anderer Käse ist schlecht, | |
ungenießbar, giftig. Kurz, er ist unrichtig. | |
Der Kauf des richtigen Gemüses ist zwingend in dem Gemüseschuppen eines | |
uralten Hutzelweibleins vorzunehmen. Wenn die gute Frau in absehbarer Zeit | |
die Möhren von unten segnet, wird es das mit dem richtigen Gemüse gewesen | |
sein. Schade, wegen Skorbut und so, aber im Supermarkt kann man kein Gemüse | |
kaufen. Dieser krank machende Fake aus der Hölle ist kein richtiges Gemüse. | |
Aufschnitt gibt es jetzt schon nicht mehr, denn der richtige Metzger hat | |
seinen Laden dichtgemacht und die richtige Wurst gleich mitgenommen. Die | |
beiden anderen Metzgereien taugen nichts. Man war noch nie dort, was ja | |
beweist, wie wenig sie taugen. Dazu heißt es verächtlich, sie nähmen | |
„Apothekenpreise“. Apropos. Eher würde man sterben, als im Dorf in die | |
falsche Apotheke zu gehen. Dort war 1974 nämlich mal jemand pampig zu | |
meinen Eltern gewesen. Seitdem ist die richtige Apotheke woanders. | |
16 Sep 2025 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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