# taz.de -- Die Wahrheit: Seelenläuterung mit Bibi Blocksberg | |
> Beim ersten Kinoerlebnis trifft eine zutiefst erschütterte Vierjährige | |
> auf eine böse Hexe, was in der Neu-Cineastin erstaunliche Erwartungen | |
> weckt. | |
Als Elternteil muss man beim Kulturkonsum des eigenen Kindes immer die | |
Balance zwischen stalinistischer Zensur und anarchistischem Laissez-faire | |
halten. Als meine Tochter klein war, bedeutete das zum Beispiel: Von | |
verantwortungslosen Verwandten geschenkte ohrenverklebende | |
Rolf-Zuckowski-CDs direkt, ohne dass das Kind sie zu Gehör bekam, in den | |
Mülleimer zu werfen, gleichzeitig aber das naturgegebene Recht eines jeden | |
Menschen auf Trash zu respektieren und tapfer das Töröö von Benjamin | |
Blümchen und das Hex-Hex von Bibi Blocksberg zu ertragen. | |
Was Bibi betrifft, blieb es nicht bei den Hörspielen. Im Jahr 2004 kam | |
meine Tochter eines Tages vom Kindergarten nach Hause und verlangte | |
energisch, dass ich mit ihr eine Vorstellung eines neuen | |
Bibi-Blocksberg-Realfilms im Kino besuchte. Offensichtlich hatte sie den | |
Film von ihren cineastisch interessierten Freundinnen empfohlen bekommen. | |
Okay, dachte ich, warum nicht. | |
Meine vierjährige Tochter ist also zum ersten Mal in ihrem Leben im Kino. | |
Cinemaxx, große Leinwand. Der Film beginnt. Ich beobachte das geflashte | |
Kind und denke: So muss sich der erste Heroinschuss anfühlen! | |
Sie ist vor Glück paralysiert. Bis Rabia von Katzenstein auftaucht, die | |
böse Hexe, gespielt von Corinna Harfouch. Das Töchterlein bekommt panische | |
Angst und flieht in meine Arme. Ich frage: „Sollen wir gehen?“ Sie jammert | |
entrüstet: „Nee! Ich will den Film sehen!“ Sie steht jetzt mit dem Rücken | |
zur Leinwand und dreht sich immer nur kurz um. Bis Rabia weg ist. Bei der | |
nächsten Szene mit Frau Harfouch – das gleiche Spiel, diesmal mit leisem | |
Weinen. Ich sage streng: „So, jetzt gehen wir!“ Wieder Protest. Mit | |
Kneifen. Ich denke: Selbst schuld, dann gibt’s jetzt halt vier Wochen | |
Albträume. | |
Kurzum: Meine Tochter steht den Film durch. Schwankend zwischen Rausch und | |
Terror. Überraschenderweise schläft sie in den folgenden Wochen prima. Die | |
Konsequenzen zeigen sich einige Zeit später. Wieder hat meine Tochter eine | |
Empfehlung bekommen: „Briefe von Felix“. Ein Zeichentrickfilm, in dem ein | |
Hase aus mir nicht mehr erinnerlichen Gründen um die Welt reist und Post | |
nach Hause schickt … | |
Meine Tochter starrt auf die Leinwand. Fassungslos. Mit einem Blick, der | |
nur eins sagt: „Was, bitteschön, soll das?“ Nach einer Viertelstunde: | |
„Können wir gehen?“ Ich frage: „Warum?“ Sie zeigt wortlos auf die Lein… | |
schüttelt den Kopf, steht auf und zieht mich an der Hand hinter sich her. | |
Plötzlich verstand ich: Meine Tochter hatte bei ihrem ersten Kinobesuch ein | |
existenzveränderndes Erlebnis gehabt. Und jetzt erwartete sie von jedem | |
Film genau das: einen Schlag in die Magengrube. Etwas, das sie nach dem | |
Kino die Welt und sich selbst anders wahrnehmen ließ als vorher. Sie | |
erwartet: Katharsis! Und kein putzig-betuliches Hasenentertainment. | |
28 Aug 2025 | |
## AUTOREN | |
Hartmut El Kurdi | |
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