# taz.de -- Interview mit Murat Kayman: „Wir sind der Zucker im deutschen Tee… | |
> Einst war er CDU-Mitglied und Ditib-Vertreter, heute warnt er vor | |
> Islamismus und Antisemitismus. Ein Gespräch über türkische | |
> Rückkehrillusionen und fehlende Empathie für Juden. | |
Bild: Norddeutscher Jung: Murat Kayman | |
Nah am Rhein liegt die Wohnung von Murat Kayman und seiner Frau, sie leben | |
in Köln, beschaulich in einem bürgerlichen Viertel auf dem Weg nach Bonn. | |
Der Jurist hat die „Alhambra-Gesellschaft“ mitgegründet, die sich als | |
säkular und plural versteht und Muslime als selbstverständlichen Teil der | |
deutschen Gesellschaft ansieht. In den sozialen Medien und mit seinem Blog | |
zählt Kayman zu den schärfsten Kritikern islamistischer Verharmlosung – | |
glaubwürdig deshalb, weil er bis 2017 als Justitiar für den türkischen | |
Verband Ditib tätig war. Für das Gespräch bittet Murat Kayman ins | |
Wohnzimmer. Es gibt, von seiner Frau vorbereitet, delikaten Kuchen und | |
Kaffee. | |
taz: Herr Kayman, Sie wohnen schon seit vielen Jahren in Köln. Das hört man | |
gar nicht. Sie klingen eher norddeutsch. | |
Murat Kayman: Ich bin in Lübeck zur Welt gekommen und dort zur Schule | |
gegangen. Lübeck war immer meine Heimat. Irgendwie hat es sich nicht | |
ergeben, hier am Rhein diese Sprachfärbung anzunehmen. | |
taz: Grüßen Sie hier mit „Moin“? | |
Kayman: Nein, das nicht, gelegentlich bei Whatsapp oder in SMS, aber das | |
ist der Gruß in jeder Lebenslage, den ich aus Lübeck kenne. | |
taz: Was mochten Sie an Lübeck? | |
Kayman: [1][Es gibt einen Text von Kurt Tucholsky]. Sinngemäß schreibt er: | |
Je weiter man in den Norden reist, desto stärker riecht die Luft nach Salz | |
und Jod. Unsere Familienausflüge nach Travemünde … | |
taz: … ein einst mondänes Bad an der Ostsee vor den Toren Lübecks … | |
Kayman: … hießen für mich, das Wasser rauschen und plätschern zu hören. | |
Heimat! | |
taz: Badeten Sie auch? | |
Kayman: Nein, da war ich verwöhnt von den Badeurlauben in der Türkei in den | |
Sommern meiner Kindheit. Das Wasser klar und warm – das war schon ein | |
anderer Schnack als die eher kalte Ostsee an der Grenze zur damals noch | |
existierenden DDR. | |
taz: Wann sind Ihre Eltern nach Lübeck gekommen? | |
Kayman: Mein Vater 1969, meine Mutter zwei Jahre später. Wir waren [2][eine | |
typische türkische Gastarbeiterfamilie]. Mein Vater hat in einer | |
Metalldruckgussfirma gearbeitet, am Ende als Vorarbeiter an den | |
Druckgussmaschinen. Meine Mutter war zunächst Hausfrau, arbeitete dann in | |
einem Schuhgeschäft. | |
taz: Viele der sogenannten Gastarbeiter, etwa Italiener, [3][die bei VW in | |
Wolfsburg arbeiteten], wollten nach einigen Jahren wieder in ihre alte | |
Heimat zurück. Ihre Familie nicht? | |
Kayman: Doch, besonders Anfang der achtziger Jahre, als Rückkehrprämien | |
versprochen wurden. Ich erinnere mich an eine Szene, als vor der Wohnung | |
eines befreundeten Paares ein Möbelwagen stand, vollgepackt mit deren Hab | |
und Gut, Kartons noch und noch. Aber wir blieben, obwohl es hieß, eines | |
Tages würden auch wir unsere Zelte in Lübeck abbrechen. | |
taz: Warum blieben Sie? | |
Kayman: Das Leben! Meinem Vater ging es auf der Arbeit gut, meiner Mutter | |
auch, und wir Kinder, meine Schwester und ich, waren einfach Lübecker | |
Kinder. Aber die Rückkehrillusion, wie ich sie nenne, blieb. Bei uns wurde | |
am Abendbrottisch auch hin und wieder darüber gesprochen, aber wir hatten | |
keine Perspektive in der Türkei. | |
taz: Gab es politische Gründe zum Bleiben? | |
Kayman: Indirekt, ja. In Deutschland konnte man als Arbeiter damals gut | |
Geld verdienen, die medizinische Versorgung war gut, der Alltag konnte | |
ruhig sein. Deutschland, das hieß, Geld zurücklegen zu können, und das hat | |
meine Familie auch. Türkei, das war auch Unsicherheit – [4][alle zehn Jahre | |
ein Militärputsch]. In Deutschland hatten meine Eltern Zukunft. | |
taz: Und Sommer für Sommer wurde das Auto für den großen Heimaturlaub | |
gepackt? | |
Kayman: Klar, dafür musste das Jahr über gespart werden. Meine Eltern | |
konnten auch in eine kleine Wohnung in der Türkei investieren, aber im | |
Sinne des Vermögensaufbaus hat sich das nie rentiert. Sie sagten uns, das | |
Geld haben wir in unsere Kinder gesteckt. | |
taz: Inwiefern? | |
Kayman: Wir konnten zur Schule gehen, Bildung war ein ganz hoher Wert. | |
Meine Mutter und mein Vater sprachen bis an ihr Lebensende nicht gut | |
Deutsch, aber wir wurden klar angehalten, die Sprache zu lernen. Einmal, | |
das merkte meine Mutter genau, fielen meine Noten in Französisch ab. Und | |
was machte sie? Organisierte Nachhilfe, ließ nicht nach. Erfolgreich. | |
taz: Waren Sie gut in der Schule? | |
Kayman: Es ist mir nie schwer gefallen. Unsere Grundschule war echt | |
multikulti. Ein paar Türkenkinder, ein Mädchen aus Griechenland … Später | |
auf dem Gymnasium war ich das einzige türkische Kind in meinem gesamten | |
Jahrgang. Bei mir stellte sich nie die Frage, ob ich wegen mangelnder | |
Deutschkenntnisse den Stoff nicht schaffe. Wobei das nicht von Beginn an so | |
glatt ging: In der Kindergartenzeit habe ich mich geweigert, Deutsch zu | |
sprechen. Türkisch, nur Türkisch sollte es sein. Keine Ahnung warum, aber | |
das änderte sich, ohne dass ich das als Zwang erinnere. | |
taz: Ein türkisches Kind in der Minderheit? | |
Kayman: Ja, eindeutig. Aber das spielte keine Rolle. Ich wurde gefördert, | |
wie andere auch. Vor allem durch Lehrerinnen. Dass ich zu einer Minderheit | |
gehöre, merkte ich erst auf dem Gymnasium. In der Grundschule waren alle | |
irgendwie gleich. | |
taz: Gab es auf dem Gymnasium rassistische Sprüche? | |
Kayman: Hin und wieder, aber nicht so, wie man es heute rassistisch nennt. | |
„Türkenjunge“ … oder so, ja. Alles nur auf dem Schulhof, nicht fundament… | |
gegen mich als Person. So wie sich Kinder untereinander bezeichnen, wenn | |
sie sich streiten und den anderen treffen wollen. Das hatte nichts an und | |
für sich zu bedeuten. | |
taz: Waren Sie das erste Kind Ihrer Familie, das eine höhere Schulbildung | |
bekam? | |
Kayman: Nein. Aber der erste, der einen Universitätsabschluss schaffte. | |
Wahr ist, dass ich das Gymnasium als Ausnahmesituation empfand: ein Kind | |
aus der Arbeiterschicht unter Jugendlichen, deren Väter meist nicht in | |
einem Industriebetrieb arbeiteten. Heute ist das in den Schulen anders, da | |
ist niemand mit meinem familiären Hintergrund die Ausnahme. | |
taz: Weshalb sind Sie Jurist geworden? | |
Kayman: Was hätte es sonst als Studium geben können? Ich war immer für die | |
Sache der Gerechtigkeit, ich wollte etwas gut machen, schlichten, nicht | |
machtlos sein. Die Juristerei war das Richtige. Es sollte nicht so sein, | |
wie ich es aus Erzählungen anderer Menschen hörte: Im Ausländeramt | |
irgendwas klären müssen, und dann triezt einen der Sachbearbeiter. Sagt | |
nicht „Adresse“, sondern „Anschrift“, weil das ein schwierigeres Wort i… | |
taz: Wie Ihr Vater in einem Industriebetrieb zu arbeiten, kam für Sie nicht | |
in Frage? | |
Kayman: Eine Erinnerung hierzu: Mein Vater musste in seiner Arbeit nachts | |
öfters raus, um die Gussöfen für den Tagesbetrieb anlaufen zu lassen. Ich | |
durfte hin und wieder mit. Ein Pförtner des Betriebs fragte ihn mal, warum | |
er seinen Sohn mitgebracht habe. Er antwortete: Damit er sieht, was sein | |
Vater arbeitet und was sein Kind nicht machen soll. | |
taz: Die Geschichte Ihrer Familie ist die einer Familie aus der | |
Arbeiterklasse, eine, die Millionen andere hierzulande ähnlich erzählen | |
können. Und doch stand immer Ihre Herkunft im Vordergrund, es ging um | |
„Ausländer“, ja um „Muslimisches“? | |
Kayman: So wurden wir wahrgenommen. | |
taz: Ist das ein Grund, weshalb sehr viele Menschen, die zur türkischen | |
Community zählen, dem autokratischen Recep Erdoğan zuneigen? Wenn der | |
türkische Präsident nach Deutschland kommt, mobilisiert er Massen zu | |
Kundgebungen. | |
Kayman: Es gibt in der türkischen Community etwas, was ich als vererbte | |
Rückkehrillusion bezeichne. Der Glaube, dass irgendwann die Rückkehr wie in | |
ein gelobtes Land bevorsteht. Und zu diesem gelobten Land gehört heutzutage | |
ein autokratischer Präsident wie Erdoğan. | |
taz: Weshalb konnte Erdoğan so populär werden? | |
Kayman: Mit seiner Rhetorik einer Türkei, die – mit ihm als Alleinherrscher | |
– vermeintlich wieder [5][zur einstigen Größe und Macht des Osmanischen | |
Reiches] aufsteigen wird. In der Gefolgschaft zu ihm werden sie Teil dieser | |
Utopie von Größe und Macht. | |
taz: Das kann es doch nicht allein sein, oder? | |
Kayman: Das andere, darüber wird nicht gern gesprochen, hat mit einem | |
kollektiven Minderwertigkeitsgefühl zu tun: Wir sind in Deutschland nicht | |
so viel wert wie alle anderen. Das wird einem ja auch nahegelegt: Sie sind | |
seltsam, sie essen komisch, sie riechen anders … In der Türkei, der Heimat | |
ihrer Vorfahren, geht es ihnen anders. Da sind sie die wohlhabenden | |
Verwandten aus Deutschland, für die einer wie Erdoğan der große Führer ist, | |
der sie mit groß macht. | |
taz: Das demokratische Gefüge der Türkei ist in vielerlei Hinsicht | |
zerstört. Das Justizsystem ist korrupt, öffentliche Kritik an Erdoğan führt | |
leicht zu Inhaftierungen. Sehen das die Erdoğan-Anhänger nicht? | |
Kayman: Die politische Realität wird vielfach ausgeblendet. Ein | |
erschütternder Befund, aber so ist es. Dass in Deutschland vieles für die | |
Angehörigen der türkischen Community besser werden könnte, klar, das | |
stimmt. Aber dieses Land, mein Land, hat ein funktionierendes | |
demokratisches System, eine bunte Gesellschaft, die Menschen wie mir | |
Teilhabe und Engagement ohne Angst ermöglicht. Das hat nicht das Gewicht, | |
das es verdient. | |
taz: Es gibt in Deutschland einen gesellschaftlichen Rechtsruck, die AfD | |
feiert Erfolge. Das macht Ihnen keine Angst? | |
Kayman: Wir sind mit einem Gefühl aufgewachsen, dass die demokratische | |
Grundordnung unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sei. Dass die | |
zwölf Jahre faschistische Diktatur eine seltsame Verirrung gewesen sind, | |
für die wir nie wieder empfänglich sein können. Nun zeigt sich, dass dem | |
nicht so ist und wir uns für die Demokratie einsetzen und sie verteidigen | |
müssen. | |
taz: Sie setzen sich seit Langem für die Interessen türkischstämmiger | |
Bürger und Bürgerinnen ein – aber nicht mehr in der Ditib, dem | |
Religionsverband der türkischen Community. Warum? | |
Kayman: Ich habe mich, als ich noch in Lübeck lebte, in die dortige | |
Stadtgesellschaft eingebracht. Fragen der Religion haben mich schon in der | |
Schule stark interessiert. Lieber als in den Ethikunterricht wollte ich in | |
den evangelischen Religionsunterricht. Das war spannender, die ethischen | |
Unterweisungen fand ich fade und eher beliebig. Mich kriegte eher, dass ich | |
im Religionsunterricht als muslimischer Schüler willkommen war und jede | |
Frage stellen konnte. | |
taz: Und Sie kamen als muslimisches Kind nicht in Zweifel? | |
Kayman: Im Gegenteil, ich konnte dort alle Themen denken – und blieb, wie | |
ich es heute bin, gläubiger Muslim. Ich hatte außerdem allen Schutz durch | |
meine Familie. Als kleines Kind ging ich in die Koranschule, aber nur kurz. | |
Wir mussten auswendig lernen und wurden hart bestraft, wenn wir etwas nicht | |
richtig wussten. Meine Eltern, volksfrömmig wie sie waren, warmherzig auch | |
in religiösen Dingen, holten mich da raus. | |
taz: Und wie kamen Sie zur Ditib? | |
Kayman: Als Jurist, der ich nach meinem Studium dann war, fiel ich den | |
oberen Funktionären auf: Der kann sich für unsere Interessen auch rechtlich | |
einsetzen. Das habe ich viele Jahre getan, war zur Islamkonferenz der | |
Bundesregierung eingeladen – und war für viele Ditib-Kritikerinnen wie | |
Necla Kelek, Seyran Ateş oder andere Mitglieder, die auf Säkularisierung | |
pochten, bestimmt kein Freund. | |
taz: Wem neigten Sie damals politisch zu? | |
Kayman: Ich war Mitglied der CDU. Religionspolitisch kam diese Partei mir | |
am nächsten. Das hat sich später geändert. | |
taz: Wann? | |
Kayman: Nachdem der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch Anfang | |
1999 seine Kampagne gegen die rot-grüne Bundesregierung und ihr Gesetz zum | |
Doppelpass ins Werk setzte. Eigentlich war das eine Aktion, bei der man, | |
wie es hieß, „gegen Ausländer“ unterschreiben konnte. Das war für mich e… | |
Schock, das war nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen mit dem, was ich | |
politisch und kulturell wollte. | |
taz: Und die Ditib? | |
Kayman: Die hatten ihre Interessen, die ich ja als Justitiar mittrug. Aber | |
ich fand es immer weniger überzeugend, dass eine Religionsgemeinschaft in | |
Deutschland aus der Türkei geleitet wird. Ich wurde ein unsicherer | |
Kantonist und wurde schließlich quasi abgeschoben, in die Abteilung für | |
Bestattungsfragen, für Belange von Menschen der türkischen Community, deren | |
gestorbene Angehörige in die Türkei überführt werden sollten. Schließlich | |
bin ich gegangen, weil ich nicht auf Geheiß der in Ankara ansässigen | |
Leitung andere Mitglieder ausspitzeln wollte, die sich dem Kurs Erdoğans | |
nicht fügen wollten. | |
taz: Hatte Ihr Weggang noch andere Gründe? | |
Kayman: In der Tat war und ist es problematisch, dass viele in der Ditib | |
Deutschland nicht als ihre Heimat ansehen wollen. Muslimisch und Deutsch – | |
das seien zwei Paar Schuhe. Mein Verständnis ist anders: Ich setze mich | |
dafür ein, dass meine Religion in Deutschland gelebt wird, ohne | |
ausländischen Einfluss und letztliche Autorität. | |
taz: Für welchen Islam stehen Sie? Wie sähe ein zeitgenössischer Islam aus? | |
Kayman: Für einen sehr individuellen. Meine Erfahrungen mit den kollektiven | |
Dimensionen meiner Glaubensgemeinschaft schwächen meinen Glauben. Ich kann | |
ihn also nur als einen sehr persönlichen Glauben bewahren. Die größte | |
Herausforderung für uns Muslime ist es gegenwärtig, eine Antwort auf die | |
Frage zu finden, wie wir mit jenen umgehen wollen, die nicht so glauben | |
wollen wie wir. Ohne eine Antwort, die sich jeder Abwertung und Anfeindung | |
enthält, wird es uns nicht gelingen, unseren Glauben als etwas zu leben, | |
das diesem Land etwas Positives zu bieten hat. | |
taz: Das Argument gegen Sie lautet, dass Sie sich der „deutschen | |
Leitkultur“, eine Chiffre, die auch der heutige Kanzler Friedrich Merz vor | |
20 Jahren in die Debatte einführte, nicht unterwerfen wollen. | |
Kayman: Ich bevorzuge ein Sprachbild meiner Eltern: Wir sind als vormals | |
türkische Gastarbeiter der Zucker im deutschen Tee. Wir süßen das Deutsche, | |
wir gehören deshalb so dazu wie alle anderen auch. Das Türkische löst sich | |
langsam auf, aber verändert dabei auch das Deutsche. Das ist für die | |
deutschen und türkischen Puristen gleichermaßen eine Herausforderung. | |
taz: Mit historischem Blick ließe sich sagen: Andere Gruppen von | |
„Gastarbeitern“, Einwanderern, wurden auch krass als nichtdeutsch gelabelt, | |
verachtet und respektlos behandelt – Italiener, Spanier, Jugoslawen. An | |
deren Speisen indes erkennt man, dass sie angekommen sind: Pizza, Paella, | |
Ćevapčići. Der Döner ist heute das in den jungen Generationen beliebteste | |
Fastfood, [6][eine Erfindung aus der türkischen Community in Deutschland]. | |
Kayman: Ob das mit arabischem Essen auch gelingen wird, halte ich für | |
offen. Wir haben eine Situation, in der arabische Einwanderer nur als | |
„Ausländer“ verhandelt werden, nicht als deutsche Staatsbürger in spe. | |
taz: Demografisch hat unser Land gar keine andere Wahl, das weiß auch die | |
Union: Es werden mittelfristig jede Menge Einwanderer, mithin Neudeutsche | |
gebraucht, oder? | |
Kayman: Das ist bestimmt so, alle Zahlen sagen das. Aber das ändert nichts | |
daran, dass das Muslimische und das Demokratische noch viel zu oft als | |
Gegensatz gedacht werden. Mein Islam, mein Glauben ist so viel wert wie der | |
christliche oder der jüdische Glauben. Das ist kein Gegensatz, darauf muss | |
ich bestehen. Mir macht der deutsche Diskurs Sorgen, der völkische | |
Vorstellungen bedient und sich interessanterweise mit vielen Vorstellungen | |
Erdoğans deckt. | |
taz: Der Krieg in Gaza wühlt die arabische Community auf. Wie beurteilen | |
Sie die Demos und Proteste gegen Israel, gegen Jüdisches, auch in | |
Deutschland? In manchen Kommentaren zu Ihren Posts steht, Sie seien ein | |
„Verräter“. | |
Kayman: Ich bin, muss ich zugeben, nicht erklärungs-, aber ratlos. [7][Die | |
fehlende Empathie nach dem 7. Oktober mit Juden und Jüdinnen], ob in Israel | |
oder nicht, finde ich unfassbar. Stattdessen gab es starke Sympathien für | |
die Hamas. | |
taz: In Berlins Bezirk Neukölln wurde Baklava verteilt. | |
Kayman: Schockierend, ja. Die tonangebenden muslimischen Communitys sitzen | |
in der Falle: Ihnen fehlt es an Mitgefühl mit den Opfern des 7. Oktober | |
2023. Sie warnen vor antimuslimischen Vorbehalten … | |
taz: … die es ja auch gibt, nicht wahr? | |
Kayman: Sie sprechen von „antimuslimischen Rassismus“ sogar, aber ohne die | |
stark wachsende Gewalt gegen jüdisches Leben zu erwähnen. Viele sitzen | |
einem Wahn auf: Sie würden sich darüber freuen, wenn Israel nicht mehr | |
existiert. Und sie versuchen diese innere Haltung mit den | |
unterschiedlichsten ideologischen Argumenten zu rationalisieren und zu | |
rechtfertigen, um sich besser zu fühlen. Dieser Weg endet aber in der | |
Akzeptanz oder gar der stillen Huldigung des Terrors gegen Juden. | |
taz: Viele aus der muslimischen Community kennen Menschen in Gaza, sie | |
wollen das israelische Vorgehen dort nicht hinnehmen. | |
Kayman: Diese [8][Verbundenheit mit den Menschen in Gaza] verdient | |
wahrgenommen und geteilt zu werden. Dass das nicht oder zu wenig passiert, | |
hat mit dem Versagen der muslimischen Communitys und ihrer Repräsentanten | |
unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 zu tun: Denn viele aus der jüdischen | |
Community in Deutschland kennen Menschen in Israel, einige der Geiseln der | |
Hamas sind auch deutsche Staatsbürger. Das fehlende Mitgefühl in der | |
muslimischen Community ihnen gegenüber spiegelt sich in dem, was Muslime | |
heute als fehlende Empathie mit den Menschen in Gaza beklagen. | |
taz: Ihre Eltern, Herr Kayman, sind wo begraben? | |
Kayman: In Lübeck, ihrer zweiten Heimat, an dem Ort, so sagten sie, wo sie | |
von ihren Kindern besucht werden können. Und so ist es, so wird es sein. | |
23 Aug 2025 | |
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