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# taz.de -- Ukraine: Ein Krankenhaus im Schatten des Krieges
> Im März 2022 rückten russische Truppen in die ukrainische Kleinstadt
> Snihuriwka ein. Der kommissarische Chefarzt des Krankenhauses überlebte
> die Besatzung.
Bild: Nach dem Abzug der Russen im November 2022 war Snihuriwka zu großen Teil…
Snihuriwka taz | Die Türen des Kreiskrankenhauses öffnen sich und Dr.
Schmigelski tritt vor die Tür. Wieder einmal ist in einem Auto humanitäre
Hilfe eingetroffen, dieses Mal vom Verband Odessa der ukrainischen
Journalistengewerkschaft. Es ist vor allem medizinisches
Verbrauchsmaterial, Kanülen, Einwegspritzen, Handschuhe.
Diese Hilfe ist im Krankenhaus in Snihuriwka dringend notwendig. Vom 19.
März bis zum 10. November 2022 war die Kleinstadt, die rund 50 Kilometer
nördlich von Cherson im Gebiet Mykolajiw liegt, von russischen Truppen
besetzt. Und die Folgen sind bis heute spürbar: Der Bedarf an medizinischer
Hilfe ist größer geworden, aber die Mittel sind die gleichen geblieben.
Schwer trifft das Krankenhaus auch die Flucht von Ärzten und
Krankenschwestern direkt zu Kriegsbeginn.
Geduldig holt Valentin Schmigelski zusammen mit den Journalisten die Pakete
aus dem Kofferraum. Wenig später, im Arztzimmer, beginnt er zu erzählen.
Gleich [1][am ersten Tag des Krieges], so berichtet Schmigelski, floh die
Leitung des Krankenhauses, auch der Chefarzt und weitere Ärzte. Damals
stießen die russischen Truppen von der Krim aus fast ungehindert nach
Norden vor, die Front näherte sich schnell. Von 214 MitarbeiterInnen
blieben gerade einmal 79, von den 29 Ärzten waren nur drei bis zum Ende der
Besatzung im Krankenhaus tätig.
## Hohes Maß an Verantwortung
Alle, die blieben, hätten ein hohes Maß an Verantwortung gezeigt, erinnert
er sich. Noch am ersten Kriegstag um 18 Uhr wurde Schmigelski von den
Behörden des Gebiets Mykolajiw zum kommissarischen Chefarzt ernannt. Am
selben Abend wurden die ersten schwer verwundeten ukrainischen Soldaten
eingeliefert.
Die Behördenvertreter, erinnert er sich, verteilten Hilfsgüter
untereinander, statt Leben zu retten. Man war in der Klinik ganz auf sich
gestellt – und den eigenen Dieselgenerator und den eigenen Brunnen.
Täglich trafen im Krankenhaus Verwundete ein, in erster Linie Soldaten. Wer
transportfähig war, wurde nach Mykolajiw evakuiert, die Gebietshauptstadt
weiter westlich. 28 schwerverwundete Soldaten konnten zunächst nicht
evakuiert werden, wegen ihres kritischen Zustands und weil es keine
sicheren Transportwege gab.
Die Evakuierungen waren gefährlich. Da die zentrale Brücke gesprengt war,
mussten die Verletzten auf Tragen über Felder geschleppt werden, lautlos im
Schutz der Nacht. „Aber sie schafften es: Kein einziger Soldat geriet in
russische Gefangenschaft. Niemand starb im Krankenhaus. Nur ein 4-jähriger
Junge, der aus unserem Krankenhaus nach Mykolajiw evakuiert wurde, konnte
in Mykolajiw nicht gerettet werden. Er erlag den Verletzungen, die er von
den Raketensplittern erlitten hatte.“
## „Verbrennt meine Dokumente“
Besonders im Gedächtnis blieb ihm ein Soldat mit gebrochenem Bein.
Operationen waren im Krankenhaus nicht möglich – es fehlte an Fachpersonal.
Als klar wurde, dass russische Truppen Snihuriwka erreichen würden, bat der
junge Mann: „Verbrennt meine Dokumente. Verbrennt meine Kleidung.“
Er war nicht der einzige Soldat, der Angst hatte, von den heranrückenden
Russen als Soldat erkannt zu werden. Die Ärzte reagierten sofort. Bauern
aus der Umgebung brachten Zivilkleidung, die verletzten Soldaten bekamen
zivile Kleider. „Wir haben für die Soldaten Krankenakten unter falschen
Namen angelegt, ihnen für den Transport gefälschte Geburtsurkunden
mitgegeben, um sie im Falle eines Kontaktes mit russischen Militärs zu
schützen.“
Der 19. März 2022 war ein schöner Frühlingstag, doch für die Bevölkerung
von Snihuriwka war es ein schwarzer Tag. Es war der Tag, an dem die
russischen Truppen in der Kleinstadt mit ein paar tausend Einwohnern
einrückten. Gleich am nächsten Tag fuhr ein russischer Konvoi vor:
Militärfahrzeuge, Soldaten, FSB-Agenten, Nationalgarde. Etwa 150 Bewaffnete
betraten das Krankenhausgelände.
Wenig später wurde Valentin Schmigelski festgenommen. Man legte ihm
Handschellen an, brachte ihn in eine Zelle im Erdgeschoss. Auch Schmigelski
hätte rechtzeitig fliehen können, doch er war geblieben, wissend, was auf
ihn zukommen könnte.
Die russischen Behörden begannen mit Drohungen und Einschüchterung. Sie
verlangten, dass der Arzt sich öffentlich auf ihre Seite stelle, verbaten
ihm, Ukrainisch zu sprechen, demütigten ihn: „Du bist kein Arzt“, hieß es.
Seine Frau, selbst Ärztin und Abteilungsleiterin, wurde ebenfalls unter
Druck gesetzt, ihr Handy beschlagnahmt. Die russischen Soldaten
durchsuchten ihr Haus, konfiszierten Technik und drohten offen mit Gewalt:
„Wir können auch anders.“ Der Arzt blieb standhaft: „Ich mache keine
Politik. Ich behandle nur.“
## Niemand im Krankenhaus lief über
Während Lehrer und Beamte die Seite wechselten und mit den Besatzern
kollaborierten, hielt das Krankenhauspersonal zusammen. Niemand lief zu den
Russen über. Das [2][erzürnte die Besatzer] noch mehr. Sie versuchten,
andere Ärzte als neuen Chefarzt einzusetzen – doch auch sie lehnten ab.
Schmigelski wusste, dass er rechtzeitig hätte fliehen können. Doch: „Ich
konnte mein Team nicht im Stich lassen. Und ich bin sehr froh darüber, dass
niemand von dem Personal mit den Besatzern zusammenarbeitete. Wir waren für
alle Patienten ansprechbar, aber nicht für die Besatzer.“ Er betont: „Wir
haben alle behandelt, auch russische Soldaten. Das verlangt die Genfer
Konvention von uns.“
Am 30. April 2022 wurde er erneut von den Russen verhört. Sie legten ihm
Handschellen an, schlugen ihn, brachten ihn in die Keller und drohten, ihn
zu foltern – mit Strom und heißem Wasser. „Dann haben sie mich aus meiner
Klinik herausgeworfen, zwangen mich, über vermintes Gebiet nach Mykolajiw
zu fahren.“
In der Gebietshauptstadt angekommen, stand er vor neuen Problemen. Der
ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU lud ihn zum Verhör vor. Man wollte
wissen, was er in der Zeit der Besatzung gemacht hatte, beschlagnahmte sein
Smartphone. „Nicht einmal die Russen hatten mein Smartphone beschlagnahmt“,
beschwert sich Schmigelski und fügt hinzu: „Ich hatte es auch gut
versteckt.“
Von Mykolajiw aus leitete er die Klinik weiter, formal jedenfalls. „In
meiner Abwesenheit hat Schwester Natalja Dorezka die Klinik geleitet. Und
sie hat das wirklich heldenhaft gemacht“, erzählt er.
## Die Befreiung im November
Seit dem 10. November 2022 ist Snihuriwka wieder frei – im Zuge der
erfolgreichen ukrainischen Offensive im Gebiet Cherson wurden die
russischen Besatzer auf das Südufer des Flusses Dnipro zurückgedrängt.
Schmigelski war sofort wieder an dem Arbeitsplatz, der für ihn seit 35
Jahren zu einem zweiten Zuhause geworden ist.
Aber auch diejenigen kamen zurück, die aus Snihuriwka gleich zu
Kriegsbeginn geflohen waren, [3][statt die Stellung zu halten]. Am 26.
November wurde er als kommissarischer Chefarzt wieder entlassen. „Es ist
für mich hart, dass ausgerechnet die Leute mich entlassen haben, die wie
Ratten unser Krankenhaus und unsere Stadt am ersten Kriegstag verlassen
haben. Tja, die Russen haben mich der Klinik verwiesen, die Grünen
(ukrainischer Slang für Selenskyj-Parteigänger) haben mich als Chefarzt
entlassen – beiden gefalle ich eben nicht.“
Seitdem ist er wieder einfacher Neurologe, der einzige im Krankenhaus von
Snihuriwka.
18 Aug 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Bernhard Clasen
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