# taz.de -- LGBTQ-Aktivist und Dragqueen: Vom schüchternen Messdiener zur s… | |
> Seine Homosexualität offen auszuleben, fiel Philipp Gresch lange schwer. | |
> Heute setzt er sich als „Igitte von Bingen“ für Rechte queerer Menschen | |
> ein. | |
Bild: Igitte von Bingen beim Schminken | |
Mainz taz | Mit einem Klebestift fährt sich Philipp Gresch über seine | |
rechte Augenbraue. Wieder und wieder, bis diese unter einer dicken Schicht | |
lila Kleber verschwindet. Nur noch einzelne Haare stechen aus der | |
aufgespachtelten Masse heraus. Gresch beugt sich vor, begutachtet sich im | |
Spiegel und tastet die verklebte Augenbraue ab. „Scheiße, noch nicht | |
genug.“ Dann reibt er weiter mit dem Klebestift. | |
Gresch ist 43 Jahre alt, studierter Theologe und arbeitet als Risikomanager | |
bei einer Versicherung. Bei CSDs in der Rhein-Main-Region steht er als die | |
Dragqueen Igitte von Bingen auf der Bühne – unter anderem in Wiesbaden, | |
Mainz und Bingen. Die taz hat ihn letztes Jahr vor seinem Auftritt beim CSD | |
in Nierstein begleitet. | |
„Malen habe ich schon im Kindergarten gehasst“, meint Gresch, während er | |
mit dunkler Farbe seine Wangenknochen schminkt. Immer wieder korrigiert er | |
Stellen, die ihm zu dunkel geworden sind, tupft die Schminke weg und trägt | |
neue auf. Er dreht den Kopf, beugt sich vor zum Spiegel und runzelt die | |
Stirn. „Naja, wenn ich weiter mache, wird’s schlimmer.“ | |
Dann wird alles mit Puder fixiert. Die Lippen zeichnet er in einem hellen, | |
glänzenden Rot nach, die Augen in einem kräftigen Lila. Dazu kommt jede | |
Menge Rouge – bis hoch zur Stirn. Mit jedem Farbpartikel verwandelt sich | |
Gresch weiter in Igitte von Bingen. | |
## Weniger Zweifel | |
Dabei verändert sich auch seine Körperhaltung. Seine Brust geht raus, die | |
Schultern zurück. Er steht erhöht und wippt auf den Zehenspitzen. Aus | |
seinem tiefen, gackernden Lachen wird ein helles Kichern. | |
Beim Blick in den Spiegel äußert Gresch jetzt weniger Zweifel. Jeder | |
Schritt geht ihm leichter von der Hand, wird nicht noch mal geprüft und | |
verbessert. Ihm gefällt, was er sieht, und die Angst, dass ihm das | |
aufwendige Schminken misslingen könnte, fällt von ihm ab. | |
Zügig schnallt er sich einen BH mit zwei Brustimplantaten um, zieht ein | |
schwarzes Paillettenoberteil darüber und setzt eine blonde Perücke mit | |
schwarzen Strähnen auf. Die Verwandlung ist perfekt, Greschs Unsicherheit | |
verflogen und Igitte bereit für die Bühne. | |
Sich selbst auszuleben ohne Angst davor, was andere von ihm denken könnten, | |
sei ihm früher schwergefallen, sagt Gresch. In der Schule sei er gemobbt | |
worden, früh habe er gelernt, sich zu verstecken und [1][eine Rolle zu | |
spielen]. | |
## Erst mit 28 | |
Ein erster Outing-Versuch mit 16 ging schief. Seine Eltern – mittlerweile | |
beschreibt er sie als unterstützenden Teil seines Lebens – schreiben seine | |
Homosexualität als Phase ab. Erst fünf Jahre später gelingt es Gresch, sich | |
endgültig als schwul zu outen. | |
Wenn er von dieser Zeit berichtet, wird Gresch leiser. Er lässt sich Zeit | |
mit seinen Antworten und überlegt, was er sagen kann und was nicht. Er | |
scheint niemanden verletzen zu wollen, auch wenn das bedeutet, sich selbst | |
zurückzunehmen. | |
Erst mit 28, nach der Trennung von seinem ersten Freund, geht Gresch das | |
erste Mal in eine Schwulen-Bar. „Da habe ich realisiert: Ich habe meine | |
komplette schwule Jugend verpasst“, erzählt Gresch. „Das tat schon weh.“ | |
Ein Fluchtort für ihn: die Kirche. Viele Jahre war Gresch Messdiener, | |
engagierte sich in seiner Heimatgemeinde in Speyer und sang im Kirchenchor. | |
Er habe es geliebt, wenn er ein Solo hatte. So konnte der Älteste von | |
sieben Geschwistern seine musikalische und extrovertierte Ader ausleben. In | |
seinem Elternhaus sei dafür kaum Raum gewesen. | |
Doch auch in der Kirche musste Gresch einen Teil von sich immer verstecken. | |
Bis heute sieht die katholische Kirche Homosexualität als Sünde an. „Ich | |
habe nie jemanden in meiner Gemeinde angelogen, und die meisten hat es auch | |
nicht gestört, aber nur solange es hinter verschlossenen Türen blieb“, | |
beschreibt Gresch. | |
Doch im Laufe der Jahre wächst Greschs Selbstbewusstsein, er legt seine | |
Unsicherheiten ab und lebt sich offener aus. Auch weil er eine Community | |
gefunden habe, in der er keinen Teil von sich mehr verstecken müsse, sagt | |
Gresch. | |
Vor vier Jahren tritt er schließlich aus der katholischen Kirche aus. Er | |
will sich zeigen und offen stolz darauf sein können, wer er ist. | |
Aber ihm fehlt auch die Kirche. Eine neue „religiöse Heimat“, so beschreibt | |
es Gresch, findet er vor einem Jahr bei den Altkatholiken – einer Gruppe | |
freier Kirchen, die sich früh von der katholischen Kirche abgespaltet haben | |
und progressiver sind. Hier muss er keinen Teil von sich verstecken und | |
heiratet im Mai seinen langjährigen Lebenspartner. | |
## Schrille alte Tante | |
Igitte scheint Ausdruck dieses über die Jahre gewonnen Selbstbewusstseins | |
zu sein. „Sie ist die schrille alte Tante, die einfach selbstbewusst dazu | |
steht, wie sie ist“, beschreibt Gresch [2][sein Alter Ego.] Seit sieben | |
Jahren tritt Igitte auf den CSDs in der Rhein-Main-Region auf, macht eigene | |
Shows und Weinproben. | |
Vorbilder für die Kunstfigur seien etwa die Mutter aus der Serie „Die | |
Nanny“, die „Golden Girls“ und eine seiner eigenen Tanten. „Hauptsache … | |
schrill und nichts mehr zu verlieren.“ | |
Schon äußerlich unterscheidet sich Igitte damit deutlich von dem Bild der | |
`klassischen´ Dragqueen, wie es in Deutschland beispielsweise durch Olivia | |
Jones geprägt wurde. „Igitte ist trashiger und älter“, beschreibt es | |
Gresch. Statt einem eleganten Cocktailkleid trägt sie beispielsweise ein | |
Top aus der Übergrößenabteilung von C&A und sei mindestens zehn Jahre älter | |
als der 43-Jährige. Dennoch stecke in ihm mehr von Igitte, als er manchmal | |
zugeben möchte. „Es gibt nur weniges, was Igitte macht, wofür Philipp sich | |
schämen würde“, sagt Gresch. | |
[3][Als Igitte von Bingen] kann Gresch sich selbst ausleben und | |
gleichzeitig ist sie Ausdruck seines Engagements für die Gleichberechtigung | |
und Teilhabe von queeren Menschen. Zwar ginge es bei Igittes Shows in | |
erster Linie darum gemeinsam Spaß zu haben, sagt Gresch. „Wir sind ganz | |
normale Leute und wir lachen alle über die gleiche Scheiße“, beschreibt er | |
die Botschaft ihrer Shows. Doch Inhalt ihrer Kabaretteinlagen und Lieder | |
sind immer wieder auch aktuelle politische Debatten. | |
In diesem Jahr unter anderem die Diskussion, um Bundestagspräsidentin Julia | |
Klöckner (CDU), die unter dem Vorbehalt der Neutralität das Hissen der | |
Regenbogenflagge über dem Reichstagsgebäude verbot und es | |
Bundestagsmitarbeitenden untersagte, als Gruppe am Berliner CSD | |
teilzunehmen. „So wird aktiv versucht, die Sichtbarkeit von Minderheiten | |
und queeren Menschen zu reduzieren. Mit Neutralität hat das nichts zu tun“, | |
meint Gresch. Er empfinde Klöckners Entscheidung als Angriff auf sich und | |
alle queeren Menschen. | |
Auch insgesamt nehme er spätestens seit einem dreiviertel Jahr eine | |
Verschiebung der öffentlichen Stimmung wahr, sagt Gresch. Beleidigungen und | |
Angriffe, gegen ihn persönlich und gegen queere Menschen insgesamt, seien | |
immer häufiger. Auch laut Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) stieg die | |
Zahl der Angriffe gegen queere Menschen 2023 im Vergleich zum Vorjahr mit | |
etwa 50 Prozent stark an. | |
## „Queere Menschen müssen sichtbar sein“ | |
„Es fühlt sich an, als wandle sich die gesamte Gesellschaft gegen dich und | |
die Werte, für die du gekämpft hast“, sagt Gresch. Die Angst, ausgegrenzt | |
und angegriffen zu werden, nehme stetig zu. | |
Vor einem Jahr war Gresch noch kampfesmutig: „Queere Menschen müssen | |
sichtbar sein. Holt mehr Dragqueens auf die Straße, mehr Puppies. Zeigt | |
Ihnen, wer einen von uns angreift, greift uns alle an“, sagte er damals. | |
Doch jetzt zieht sich Gresch erst einmal ins Private zurück. Fünf Jahre war | |
er Vorsitzender des Vereins Schwuguntia, der sich für die Förderung | |
sozialer und kultureller Interessen von Lesben und Schwulen in Mainz | |
einsetzt und einer der Organisatoren des Mainzer CSDs. In diesem Jahr ist | |
er nicht erneut für den Vorsitz angetreten. Zu viel Kampfeskraft koste der | |
politische Aktivismus ihn aktuell. | |
Doch spätestens in ein paar Jahren plant Gresch zurückzukommen und auch als | |
Igitte von Bingen setzt er sich weiterhin für die Rechte von queeren | |
Menschen ein. Denn sich wieder zurückzuziehen und hinter verschlossenen | |
Türen zu leben, ist für ihn keine Option mehr. | |
7 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Anarchische-Chansonniere/!5498862/ | |
[2] https://www.echo-online.de/lokales/darmstadt/csd-portraet-ueber-drag-queen-… | |
[3] https://www.instagram.com/igitte_von_bingen/ | |
## AUTOREN | |
Moritz Huhn | |
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