# taz.de -- Buch über moderne Sklaverei: Wir alle profitieren von Menschenhand… | |
> Gestohlene Kinder, sexuelle Ausbeutung, erzwungene Arbeit: Viele | |
> Millionen Menschen sind heute Opfer von Sklaverei, zeigt Barbie Latza | |
> Nadeau. | |
Bild: „Sehen Sie sich die Person genauer an, die Ihnen im Nagelstudio die Fin… | |
Dass sogenannte Lovescammer ihren Opfern unter falscher Identität Liebe | |
vorgaukeln, um ihnen Geld aus der Tasche zu ziehen, ist als Phänomen des | |
Internetzeitalters spätestens seit Martina Hefters Erfolgsroman [1][„Hey | |
guten Morgen, wie geht es dir?“] bekannt, ebenso, dass diese moderne Form | |
des Betrugs oft eine koloniale Dimension hat. Im Roman sitzt ein Afrikaner | |
bei Kerzenschein am Handy und bezirzt eine Frau in Deutschland. Anders als | |
Hefter hat sich die beim Nachrichtensender CNN arbeitende Journalistin | |
Barbie Latza Nadeau dem Phänomen investigativ genähert. Sie fand heraus, | |
dass es oft Opfer von Menschenhandel sind, die in sogenannten | |
Betrugsfabriken festgehalten und gezwungen werden, Internetverbrechen zu | |
begehen. | |
Liebesschwüre per Mail, vermeintlich lukrative Geldanlagetipps oder Anrufe | |
aus einem dubiosen Callcenter – laut Latza Nadeau ist es ziemlich | |
wahrscheinlich, dass der Mensch, der hinter solchen Kontaktaufnahmen | |
steckt, dazu gezwungen wurde. Die Autorin erzählt die Geschichte eines | |
chinesischen Büroangestellten, der mit einem plausibel klingenden | |
Jobangebot nach Thailand gelockt wurde und dort sieben Monate in einem | |
umzäunten Arbeitslager fest saß, wo man ihn zwang, als Buchhalter die | |
Millionenprofite einer kriminellen Organisation zu überprüfen, die auf | |
Anlagebetrug und „Schweinemast“ (ein Synonym für Lovescamming) | |
spezialisiert war. Latza Nadeau zufolge sind ganze Regionen Südostasiens | |
seit der Pandemie zu Hotspots des Cybercrime geworden; die marktlogische | |
Ausweichbewegung einer Industrie, die nach Schätzungen der Internationalen | |
Arbeitsorganisation (ILO) jährlich rund 150 Milliarden Dollar einbringt. | |
„Der Handel mit Personen, oder Menschenhandel, ist eine Form der modernen | |
Sklaverei“, stellt Barbie Latza Nadeau eingangs fest. In ihrem Buch rollt | |
sie die Aktionsfelder der Menschenhändler systematisch auf, von den | |
„Maklern des Elends“, die Menschen auf der Flucht übers Mittelmeer oder | |
über die Balkanroute in die Schuldknechtschaft zwingen, bis zu | |
Organhändlern und denen, die als Anwerberin, Zuhälter oder Logistiker | |
Frauen, Männer und Kinder sexuell ausbeuten. | |
Schon der Buchtitel „Every Body Counts“ macht deutlich: Latza Nadeau | |
schreibt aus einer engagierten menschenrechtlichen Perspektive – und scheut | |
dabei nicht vor moralischen Fragen zurück. So fordert sie die Leser:in | |
auf: „Gehen Sie eine beliebige Straße in einer beliebigen Großstadt dieser | |
Welt entlang. Sehen Sie sich die Person genauer an, die Ihnen im | |
Nagelstudio die Finger manikürt. Öffnen Sie Ihren Kleiderschrank, Ihre | |
Kommode. Werfen Sie einen Blick auf Ihr Handy. Wer passt auf Ihre Kinder | |
auf? Wer putzt Ihr Haus? Man muss kein Menschenhändler sein, um sich ins | |
wirtschaftliche Netz des Menschenhandels zu verstricken.“ | |
## Kriege bieten den Nährboden für Kinderhandel | |
Wir alle, lautet die Botschaft der Autorin, profitieren von moderner | |
Sklaverei, von der laut einem UN-Bericht von 2022 rund 40 bis 50 Millionen | |
Menschen betroffen sind. Dass Ausbeutung in der Mode-und | |
[2][Textilindustrie], der Landwirtschaft und der Rohstoffgewinnung weit | |
verbreitet sind, ist keine Neuigkeit. Ebenso wenig, dass mit erzwungenen | |
sexuellen Dienstleistungen Milliardenprofite gemacht werden. Dennoch rückt | |
Barbie Latza Nadeau manches, was man zu wissen meint, zurecht. So sei es | |
ein Missverständnis zu glauben, dass Menschenhandel ein Synonym für | |
Sexhandel sei: „Nur“ 22 Prozent der weltweiten Opfer von Menschenhandel | |
würden zur Prostitution oder zu anderen Formen sexueller Ausbeutung | |
gezwungen. Die anderen würden als Arbeitskräfte ausgebeutet, fielen | |
Organhandel zum Opfer oder würden verschleppt, um für das organisierte | |
Verbrechen, etwa als Drogenkurier, zu arbeiten. | |
Andere Formen von Menschenhandel sind erst auf den zweiten Blick zu | |
erkennen. Kinder, die vermeintlich aus Waisenhäusern zur Adoption | |
freigegeben wurden, seien in Wirklichkeit ihren Eltern gestohlen oder von | |
ihnen verkauft worden oder stammten aus sogenannten Babyfarmen, – Orten, wo | |
Frauen, nicht immer freiwillig, Kinder zum Zweck des Verkaufs gebären. Bei | |
ihren Recherchen stieß Barbie Latza Nadeau auf die Geschichte ihrer eigenen | |
Urgroßmutter, die als Baby im dörflichen Afghanistan von einem | |
Jesuitenmissionar „gerettet“ und einem katholischen österreichischen | |
Ehepaar gegeben worden war. Wurde sie womöglich verkauft oder verschleppt? | |
In Afghanistan gibt es auch heute keinerlei Richtlinien zum Schutz von | |
Kindern vor illegaler Adoption oder der Rekrutierung als Kindersoldaten. | |
Die Richtlinien der UNHCR, die den Verkauf von Kindern verbieten, würden | |
bei internationalen Adoptionen oft nicht durchgesetzt, da Länderstandards | |
unterschiedlich seien und bei Privatadoptionen Standards unterlaufen | |
würden, schreibt die Journalistin. | |
Natza Ladeau, die sich bei ihren Recherchen auf Material von NGOs und | |
internationalen Bündnissen gegen Menschenhandel stützt, aber auch auf | |
eigene Recherchen etwa in Flüchtlingslagern und an Bord eines | |
Seenotrettungsschiffs, beleuchtet die Rolle dubioser Agenturen und weist | |
darauf hin, dass Kriege idealen Nährboden für Kinderhandel bieten: Rund | |
19.000 [3][ukrainische Kinder] wurden vom russischen Militär „evakuiert“ | |
und nach Russland verbracht; in anderen Kriegsregionen werden verkaufte | |
oder verschleppte Kinder zur Sexarbeit oder Schlimmerem gezwungen. Barbie | |
Latza Nadeaus Kapitel über den Handel mit „Snuff-Videos“, in dem Kinder vor | |
laufender Kamera vermeintlich oder tatsächlich getötet werden, für zahlende | |
Kundschaft, gehören zu den unerträglichsten Passagen in diesem an | |
drastischen Beispielen reichen Buch. | |
## Die wohlmeinende Naivität der Seenotretter | |
In allen Kapiteln strukturiert die Autorin ihre Recherche, indem sie erst | |
Akteure und Mechanismen des Geschäftsmodells beschreibt, Geschichten von | |
Betroffenen erzählt und dann – der Spur des Geldes folgend – fragt, wer | |
profitiert und wer dafür verantwortlich ist. | |
Ein wesentlicher Faktor ist die Migrationspolitik: Laut einer Erhebung der | |
Internationalen Organisation für Migration sind 70 Prozent aller Migranten, | |
die mit dem Boot aus Nordafrika in Europa ankommen, Opfer von | |
Menschenhandel. Was wäre, fragt Barbie Latza Nadeau, wenn diese Menschen in | |
ihren Heimatländern Asyl beantragen könnten, statt sich auf eine | |
gefährliche Reise zu begeben? Obwohl das Palermo-Protokoll, das Opfern von | |
Menschenhandel Schutz gewähren soll, von 178 Ländern ratifiziert wurde, | |
erhalten illegal Eingeschleppte nirgends automatisch ein legales | |
Einwanderungsrecht, was sie ausbeutbar macht. Auch Hilfepläne, die auf dem | |
Papier bestehen, werden vielerorts nicht umgesetzt, – stattdessen riskieren | |
Opfer, die sich bei Behörden melden, sofortige Abschiebung oder | |
Inhaftierung. | |
Wie sehr der Wunsch nach einem immer härteren Anti-Migrations-Kurs die | |
Verletzlichsten weiter entrechtet, illustriert Latza Nadeau anhand einer | |
Nigerianerin, die sich in Rom auf der Straße prostituiert – unfreiwillig. | |
Sie habe mehrmals versucht, zu fliehen, sagte die Frau, doch die Polizei | |
habe sie an die Hotline verwiesen und die sei dauerbesetzt. Als sich Latza | |
Nadeau selbst ans Telefon klemmt, bekommt sie schließlich die Auskunft, es | |
gebe keine freien Plätze im Wohnheim. In Italien wurden Einrichtungen für | |
Menschenhandelsopfer unter Giorgia Meloni die Finanzierung gekürzt, | |
stattdessen wurden Abschiebehaftanstalten für neu ankommende Migranten | |
gebaut. | |
Latza Nadeau kritisiert diese migrationsfeindliche, brutale Härten und | |
Menschenrechtsverstöße in Kauf nehmende Politik, die auch in vielen anderen | |
Ländern auf dem Vormarsch ist, vehement. Sie hat aber auch Kritik an denen, | |
die sich für Migranten einsetzen: Ist es, so fragt sie, nicht ein krasses | |
Versagen von Seenotrettungsorganisationen, wenn diese zwar die Menschen aus | |
dem Wasser holen, nicht aber unterbinden können, dass sie noch auf den | |
Rettungsbooten von Bordellbetreibern und anderen Ausbeutern als „Ware“ in | |
Empfang genommen werden? Laut ihrer Analyse hat die wohlmeinende Naivität | |
der Seenotretter für die Betroffenen die gleichen Konsequenzen wie der Hass | |
der Migrationsfeinde. | |
Menschenhandel, zeigt dieses stringent durchargumentierte Buch, ist | |
überall. Man muss ihn nur sehen wollen. Wie das Hinschauen im Alltag geht, | |
zeigt Latza Nadeau anhand einiger konkreter Hinweise. Ihr Buch ist keine | |
leichte, aber eine erhellende Lektüre. | |
27 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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