| # taz.de -- Indonesien und Westpapua: Eine neue Geschichte wagen | |
| > Indonesiens Präsident will die Landesgeschichte neu schreiben lassen. Die | |
| > indigenen Papuaner müssen mitwirken, sonst bleibt es ein Monolog der | |
| > Macht. | |
| Bild: Viele Gemeinden von Papua haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, das Bil… | |
| Am 27. Mai 2025 ließ [1][Präsident Prabowo Subianto] ein nationales Projekt | |
| zur Neuschreibung der indonesischen Geschichte ankündigen. Über 120 | |
| Historiker*innen sollen eine zehnbändige Gesamterzählung verfassen – | |
| von der Urgeschichte bis zur Reformära. Das Vorhaben gilt als Versuch, eine | |
| ehrlichere, integrativere und dezentralere Erinnerungskultur zu schaffen. | |
| Doch aus westpapuanischer Sicht stellt sich nicht nur die Frage, was | |
| erzählt wird, sondern vor allem: wer erzählen darf. | |
| In Papua, dem indonesisch annektierten Westen der Insel Neuguinea, wird die | |
| [2][Geschichte der Region anders erzählt] als in Indonesien. Für viele | |
| indigene Papuas war etwa die sogenannte Volksabstimmung zur Angliederung an | |
| Indonesien von 1969 kein demokratischer Meilenstein, sondern der Beginn | |
| systematischer Entmündigung. Nur 1.026 von über 800.000 Menschen durften | |
| unter massivem militärischem Druck abstimmen. Obwohl der Prozess formell | |
| von der UNO bestätigt wurde, gilt er in Papua bis heute als Farce – als | |
| „Act of No Choice“. In Schulbüchern wird diese Episode als freiwillige | |
| Rückkehr Papuas zu Indonesien dargestellt. Die realen Traumata – gewaltsame | |
| Vertreibungen, verschollene Stimmen, verbrannte Felder – bleiben unerwähnt. | |
| Großprojekte wie das LNG-Tangguh-Werk, die Erdölförderung in Sorong oder | |
| Nickelminen in Raja Ampat machen Papua zu einem der wichtigsten | |
| Rohstofflieferanten des Landes. 2024 übertraf Papua die nationalen | |
| Einnahmeziele mit über 14,5 Billionen Rupiah aus dem Staatshaushalt und 9,6 | |
| Billionen Rupiah an Steuern – die höchsten in Ostindonesien. Und dennoch | |
| bleibt Papua strukturell benachteiligt. | |
| Laut dem indonesischen Statistikamt BPS lag der Index für menschliche | |
| Entwicklung 2023 bei nur 61,39 – dem niedrigsten landesweit. In der neuen | |
| Hochlandprovinz Papua Pegunungan lebten über 25 Prozent der Bevölkerung in | |
| extremer Armut. Viele Gemeinden haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, das | |
| Bildungs- und Gesundheitssystem ist unterversorgt. Die Ressourcen fließen | |
| ab, der Wohlstand bleibt aus. Die extraktive Logik aus der Zeit der | |
| niederländischen Kolonisierung wirkt bis heute fort. | |
| ## Reich an Ressourcen und trotzdem arm | |
| Seit 2001 gilt in Papua ein gesetzlicher Sonderautonomiestatus – „Otonomi | |
| Khusus“ oder Otsus. Er sollte politische und finanzielle Selbstbestimmung | |
| ermöglichen. Doch laut Indonesia Corruption Watch waren über die Hälfte | |
| aller regionalen Korruptionsfälle mit Otsus-Fonds verbunden. Otsus Jilid I | |
| brachte keine strukturelle Verbesserung. Otsus Jilid II wurde 2022 ohne | |
| breite öffentliche Konsultation eingeführt und vertiefte das Misstrauen der | |
| Bevölkerung. | |
| Vor Ort zeigt sich eine alarmierende Realität: In über 50 Prozent der | |
| Dörfer gibt es keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Schulen verfallen, | |
| medizinisches Personal fehlt, Straßen sind oft unpassierbar. Die | |
| Auswirkungen spüren vor allem Kinder und Jugendliche, die zwischen | |
| Militärposten und wirtschaftlicher Ausweglosigkeit aufwachsen. | |
| Doch es besteht Hoffnung: Junge indigene Frauen, Umweltaktivist*innen, | |
| Kirchen, Studierende und Dorforganisationen dokumentieren systematische | |
| Menschenrechtsverletzungen, organisieren Bildungsinitiativen und fordern | |
| Mitsprache. Ihre Stimmen – oft marginalisiert oder kriminalisiert – sind | |
| zentral für eine glaubwürdige nationale Versöhnung. | |
| Eine nationale Geschichtsschreibung, die marginalisierte Gruppen ignoriert, | |
| bleibt ein Monolog der Macht. Wenn Indonesien wirklich eine neue Erzählung | |
| schreiben will, dann muss sie von den Stimmen leben, die jahrzehntelang | |
| unterdrückt wurden – nicht nur von denen, die regieren. | |
| ## Es braucht Raum für unterdrückte Stimmen | |
| Viele Papuas, insbesondere junge Menschen, sehen sich heute zwischen zwei | |
| Welten: einer traditionellen Lebensweise, die von Respekt, Gemeinschaft und | |
| ökologischer Balance geprägt ist, und einem nationalen Entwicklungsmodell, | |
| das oft auf extraktive Industrien, Zentralismus und militärische Kontrolle | |
| setzt. Diese Kluft schafft nicht nur soziale Spannungen, sondern bedroht | |
| auch das kulturelle Überleben indigener Gemeinschaften. Umso wichtiger ist | |
| es, dass die nationale Geschichtsschreibung nicht nur Fakten sammelt, | |
| sondern auch Räume des Zuhörens schafft – für Stimmen, die lange | |
| unterdrückt wurden. | |
| Die Aufgabe der Geschichtsschreibung ist nicht, nationale Einheit zu | |
| erzwingen, sondern Vielfalt anzuerkennen – mit all ihren Widersprüchen, | |
| Konflikten und Hoffnungen. Die Zukunft Indonesiens entscheidet sich nicht | |
| in Büros oder Gremien, sondern in der Bereitschaft, die Geschichten der | |
| Peripherie in das Zentrum zu rücken. Papua ist keine Randnotiz der Republik | |
| – Papua ist ein Prüfstein für ihre demokratische Reife. | |
| Deshalb darf dieses Projekt nicht als technokratische Übung missverstanden | |
| werden. Es muss ein moralischer Wendepunkt sein. Als indigener Papuaner, | |
| der im indonesischen sowie europäischen Bildungssystem gelernt hat, habe | |
| ich Respekt vor dem Schritt von Präsident Subianto, gleich zu Beginn seiner | |
| Amtszeit eine notwendige Initiative anzustoßen, um den Zusammenhalt der | |
| Nation durch eine gemeinsame Geschichtsschreibung zu stärken. Doch dieser | |
| Schritt wird nur dann Bedeutung entfalten, wenn Papua nicht länger | |
| beschrieben, sondern aktiv mitgeschrieben wird. | |
| Wenn Indonesien von den indigenen Papuas geliebt werden will, muss es | |
| lernen, Papua zu lieben – nicht wegen seines Goldes, Gases oder Nickels, | |
| sondern wegen der Menschlichkeit, die in jedem seiner Menschen lebt. Eine | |
| neue Geschichte muss Papua den Raum geben zu sagen: Wir sind nicht nur Teil | |
| Indonesiens – wir sind Mitautor*innen seiner Zukunft. | |
| Lasst Papua seine Geschichte selbst erzählen – ehrlich, mutig und aus | |
| eigener Stimme. Und lasst uns als Nation lernen, mit Würde zuzuhören. Denn | |
| nur im Zuhören wächst Anerkennung, und nur aus Anerkennung entsteht | |
| Vertrauen. | |
| 20 Jul 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Johanes Wato | |
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