Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Behördenversagen bei Kindesmissbrauch: Strukturelles Desinteresse …
> Die Journalistin Miriam Hesse fragt in ihrem Buch „Weggeschaut“: Warum
> bleiben Hinweise auf Missbrauch von Kindern in Deutschland so oft ohne
> Konsequenzen?
Bild: Die Anteilnahme kommt meistens zu spät: Schweigeaktion für die „Kinde…
Viele Menschen werden dieses Buch vermutlich nicht lesen. Kaum ein Thema
gilt in Buchläden derart als Kassengift wie das Thema Kindesmissbrauch. An
mangelnder Relevanz liegt es nicht. Die Fallzahlen sind erschreckend und
steigen seit Jahren, was jährlich nach Präsentation der
Kriminalitätsstatistik zu alarmierter Medienberichterstattung führt.
[1][Immer wieder erschüttern besonders dramatische Fälle die
Öffentlichkeit.] Doch ist die akute Empörung abgeklungen, befassen sich nur
diejenigen mit sexueller Gewalt gegen Kinder, die es müssen: Betroffene und
ihre Familien, Therapeut:innen, Beschäftigte in der Jugendhilfe,
Richter:innen, Staatsanwält:innen und Pädagog:innen.
Wobei nicht einmal die drei letztgenannten Berufsgruppen unbedingt
bewandert sind auf diesem Gebiet, so wie man es annehmen würde: Weiterhin
mangelt es an Grundwissen über Prävention sowie das Ausmaß und die Folgen
von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche selbst bei Berufsgruppen,
die oft mit Betroffenen zu tun haben.
Die Journalistin Miriam Hesse prangert dieses strukturelle Desinteresse an.
Ihr Buch „Weggeschaut. Wie Deutschland im Kampf gegen Kindesmissbrauch
versagt“ ist eine Anklage. Am Beispiel mehrerer Skandale aus den
vergangenen Jahren, vom „Campingplatzfall“ im nordrheinwestfälischen Lügde
über den von Mutter und Lebensgefährten zur Vergewaltigung „angebotenen“
Jungen in Staufen bis zu den in einer Pflegefamilie gequälten Kindern im
baden-württembergischen Steinlachtal fragt Hesse nach Verantwortlichkeiten
und Fehlern im System: Wie kann es sein, dass besonders in Fällen von
komplexen Gewaltsituationen das große Ganze oft nicht gesehen wird?
## Behördliches und menschliches Versagen
Dazu rollt Hesse noch einmal die ganzen unglaublichen Details von
behördlichem und menschlichem Versagen auf: Da ist die Psychologin, deren
40-seitiges Gutachten mit Warnung vor der Lebensgefahr eines Pflegekindes
im Steinlachtal vom Jugendamt zurückgeschickt wird – ungelesen. Der
Jugendamtsleiter in Tübingen, der Hinweise auf akuten sexuellen Missbrauch
durch einen Pflegevater wochenlang ignoriert und nur mit einem darüber
spricht: dem Beschuldigten. Die Kreispolizei in Lippe, aus deren
Räumlichkeiten beschlagnahmte Datenträger des Haupttäters von Lügde
verschwinden. Sie sind bis heute verschollen.
Vieles davon ist bereits bekannt, anderes neu. Hesse geht es darum,
aufzuzeigen, wie sich das Versagen Einzelner, sei es aus Unkenntnis,
Zeitmangel oder Borniertheit, addiert. Zu Umständen, die dazu führen, dass
ein Kind am Ende tot ist, jahrelang gequält oder vergewaltigt wird und dies
trotz einer Vielzahl von Gefährdungshinweisen.
Den Fall(nach)betrachtungen stellt Miriam Hesse thematisch passende
Interviews mit Expert:innen zur Seite. Diese lesen sich oft recht
erwartbar: Der Oberstaatsanwalt Georg Ungefuk fordert mehr
Datenschutzbefugnisse für Ermittler. Andrea Wimmer vom Münchner Kinderhaus
beklagt, dass Schutzstellen wie ihre heillos überlastet und unterfinanziert
sind. Beides, dass Datenschutz in Deutschland allzu oft Kinderschutz
verhindert und der Schutz von Kindern politisch null Priorität hat, ist
sattsam bekannt.
Dass die Journalistin sich zudem stellenweise zu sehr von der kleinteiligen
Logik und drögen Fachsprache von Behörden („Versäulung“) vereinnahmen l�…
und die Interviews eher Abfragecharakter haben, erschwert die Lektüre an
manchen Stellen zusätzlich.
## Lichtblicke sind rar
Am interessantesten ist Hesses Buch dort, wo sie strukturelle Fehler ganz
genau benennt, etwa das dramatische Ungleichgewicht zwischen starken
Elternrechten und einem kaum vorhandenen Blick (geschweige denn Engagement)
für Kinder. Oder wo sie nach konkreten Konsequenzen von Versagen fragt: Die
Fälle in Staufen und Münster etwa haben dazu geführt, dass Fortbildungen
für Familienrichter:innen gesetzlich zumindest empfohlen werden.
Außerdem müssen sich Richter:innen bei einer Anhörung jetzt
verpflichtend ein persönliches Bild vom Kind machen – was es misshandelnden
Eltern in Zukunft schwerer machen dürfte. Und die notorisch unterbezahlten
Gerichtsbeistände für Kinder bekommen künftig etwas mehr Geld, allerdings
zu wenig, um den dramatischen Personalmangel in diesem Bereich zu stoppen.
Es gibt echte Lichtblicke wie etwa die komplette Neuausrichtung des
Jugendamts Breisgau-Hohenschwarzwald an kindlichen Bedürfnissen, aber sie
sind rar, das zeigt Hesses Buch. Insgesamt gilt in Deutschland weiterhin,
was die Verfahrensbeiständin Katja Seck formuliert: „Jeder spricht von
Kinderrechten, aber den Worten folgen zu wenig Taten.“
2 Jul 2025
## LINKS
[1] /Urteil-nach-jahrelangem-Missbrauch/!6086432
## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
Politisches Buch
Kindesmissbrauch
Sexualisierte Gewalt
Bundesrepublik Deutschland
Longread
Kindesmissbrauch
Regierungsbildung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Urteil nach jahrelangem Missbrauch: Sie lassen sich nicht brechen
Ein Vater missbraucht 9 seiner Kinder. Trotz Ermittlungen passiert lange
nichts: auch, weil ihn ein Lügendetektor entlastet. Nun gibt es ein Urteil.
Umgang mit Kritik im Hochbegabtenverein: Wer nicht schweigt, soll fliegen
2022 wurden beim Hochbegabtenverein Mensa Fälle von Kindesmissbrauch
bekannt. Wer im Verein den Umgang damit kritisiert, wird mit Ausschluss
bedroht.
Koalitionsverhandlungen von SPD und CDU: Ein bisschen Gleichstellung
Fonds gegen Missbrauch, mehr Partnerbeteiligung beim Elterngeld und Streit
beim Sexkauf: die AG Familie, Frauen und Jugend hat wenig Ambitionen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.