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# taz.de -- Sesshaftigkeit: Ein internationales Experiment mit vielen Anfängen
> Die Menschen zogen als Jäger und Sammler durch die Welt, bis sie
> plötzlich sesshaft wurden. So lautete lange die Erzählung, die Wahrheit
> ist komplexer.
Bild: Göbekli Tepe ist das bekannteste Bauwerk aus dem Neolithikum
Berlin taz | Vor rund 12.000 Jahren endete die letzte große Eiszeit. Das
Klima wurde wärmer, die Gletscher zogen sich zurück und die Landschaften
wandelten sich. Aus eisigen Tundren und Mammutsteppen wurden fruchtbare
Ebenen und Wälder. Die großen Tiere der Eiszeit verschwanden, an ihre
Stelle traten kleinere Vertreter.
Mit all diesen klimatischen Veränderungen begann auch ein tiefgreifender
Wandel im Leben der frühen Menschen. So tiefgreifend, dass in der
Wissenschaft lange von einer „neolithischen Revolution“ gesprochen wurde –
der Sesshaftwerdung der Menschen.
Inzwischen ist der Begriff verpönt, da er eine ruckartige Entwicklung
nahelegt. Tatsächlich handelte es sich um einen viele tausend Jahre
dauernden Wandel mit zahlreichen Keimzellen. Der Ausgangspunkt bleibt
jedoch gleich.
„Nach dem Ende der Eiszeit wurden die Ressourcen neu verteilt. Ohne die
großen Beutetiere brauchten die Jäger und Sammler neue
Nahrungsperspektiven“, erklärt Eva Rosenstock vom Institut für Archäologie
und Kulturanthropologie der Uni Bonn. Eine dieser neuen Nahrungsquellen
waren Meere, Flüsse und Seen. An den fruchtbaren Ufern fanden die Menschen
alles, was sie brauchten, und ließen sich nieder.
## Keine regional beschränkte Idee
Doch das Leben am Wasser war nur ein Faktor. Auch Wildgetreide und
Hülsenfrüchte wie Linsen oder Saat-Platterbsen wurden zu wichtigen
Nahrungsquellen. Diese Pflanzen wuchsen im wärmeren Klima besonders gut.
Tiere wie Ziegen oder Wildschweine waren verlässliche Fleischlieferanten –
und damit ein Grund, in einem Gebiet zu bleiben.
„Inzwischen gehen wir davon aus, dass Sesshaftigkeit keine regional
beschränkte Idee war, sondern vielmehr ein großflächiges Phänomen mit
vielen verschiedenen Auslösern und Ausprägungen“, sagt Rosenstock.
Aus der [1][Levante] stammen zum Beispiel Spuren der rund 12.000 Jahre
alten Natufien-Kultur, eine der frühesten halbsesshaften Gemeinschaften.
Ihre Mitglieder lebten in festen Häusern, legten Vorräte an und begruben
ihre Toten am Rand der Siedlungen – und blieben dennoch Jäger und Sammler.
Die ältesten Spuren von wilden und bereits halbdomestizierten
Getreidevorläufern in Siedlungen sind über 11.000 Jahre alt. Gleichzeitig
zogen noch immer Gruppen von Jägern und Sammlern umher. Zwischen diesen
„Lebensentwürfen“ gab es regen Austausch, von Handel über Liebschaften bis
zu gemeinsamen Begräbnisritualen.
Die meisten Funde stammen aus dem sogenannten fruchtbaren Halbmond – einer
Region, die vom heutigen Israel über den [2][Libanon] und Südosten der
Türkei bis in den Irak und Iran reicht. Hier wurden Menschen vermutlich
erstmals – unabhängig voneinander – sesshaft. Das belegen archäologische
Funde wie Steinwerkzeuge, Tonfiguren, Gebäudereste und zahlreiche Mörser
und Mahlsteine.
## Göbekli Tepe ohne Sesshaftigkeit kaum denkbar
Sogar erste Monumentalbauten wurden hier errichtet, wie zum Beispiel
Göbekli Tepe, einer der ältesten Tempel der Menschheit. Vor etwa 11.000
Jahren stellten Menschen dort riesige T-förmige Kalksteinsäulen auf,
arrangiert in Kreisen und verziert mit Gravuren von Menschen und Tieren.
Die Bauleistung war enorm – und ohne Vorräte, Unterkünfte und Fachleute mit
spezialisierten Fähigkeiten kaum denkbar.
Einer der Entdecker, der inzwischen verstorbene Klaus Schmidt, vermutete
daher, dass nicht nur Nahrung die Menschen an einen Ort band, sondern auch
Rituale, Feste oder das Gedenken an Verstorbene. Sesshaftigkeit entstand
also möglicherweise nicht nur, weil Menschen mussten – sondern auch, weil
sie wollten.
Mindestens genauso spannend wie die Ursprünge ist die Verbreitung der
Sesshaftigkeit innerhalb des fruchtbaren Halbmonds und darüber hinaus.
„Dank zahlreicher neuer Funde gelingt es uns inzwischen, ein ziemlich
genaues Bild von Migration und damit verbunden auch von Wissenstransfer zu
zeichnen“, sagt Barbara Horejs, Direktorin des Österreichischen
Archäologischen Instituts.
Gemeinsam mit anderen Forschenden hat sie eine Karte mit frühen Siedlungen
entwickelt – und mit jedem neuen Fund wird sie erweitert. Darauf wird
deutlich: Die Kulturtechniken der Sesshaftigkeit breiteten sich Stück für
Stück über den Mittelmeerraum aus – über Landrouten ebenso wie über
Seewege.
Das zeigen neue Ausgrabungen nahe Izmir in der Westtürkei. Dort liegt
Çukuriçi Höyük, eine der frühesten bekannten Siedlungen der Ägäis. Berei…
vor fast 9.000 Jahren verbanden die Menschen dort Fischfang, Muschelsammeln
und erste Formen von Landwirtschaft.
## Über den Balkan nach Mitteleuropa
„Die Funde legen nahe, dass die Menschen aus der nördlichen Levante über
den Seeweg in die Ägäis kamen und sich niederließen. Sie brachten Haustiere
wie Rind, Schaf, Ziege und Schwein mit – und Techniken wie die Aussaat und
das Herstellen von passenden Steinwerkzeugen“, erklärt Horejs.
Mit kleinen Unterbrechungen breitete sich die Idee der Sesshaftigkeit immer
weiter aus. Nach Mitteleuropa kam der Ackerbau über die Balkanroute entlang
von Flusstälern – und das deutlich früher als bisher angenommen, wie neue
Funde aus Serbien zeigen.
Dort entdeckten Horejs und ihr Team ein über 8.000 Jahre altes rechteckiges
Haus mit gut erhaltenen Wandresten, Vorratsräumen und Getreidelagern. Es
wird der Starčevo-Kultur zugeschrieben und gilt als eines der ältesten
Zeugnisse dauerhaft sesshafter Lebensweise in Europa. „Anders als im
fruchtbaren Halbmond sehen wir in Europa kaum Übergangsphasen, sondern ein
abruptes Auftauchen von sesshaften Gemeinschaften. Das spricht für einen
starken Wissenstransfer dank Migration“, erklärt die Archäologin.
Auch das sei eine Erkenntnis, die zeige, wie komplex der Prozess der
„Neolithisierung“ eigentlich war. Immerhin mussten sich die eingewanderten
Menschen auf ganz andere klimatische und ökologische Bedingungen einstellen
als im Halbmond. Aussaatabfolgen oder Nutztierhaltung mussten immer wieder
neu ausprobiert und angepasst werden.
In Serbien fanden die Forschenden zum Beispiel Reste von vielen
kultivierten Getreidearten und Hülsenfrüchten. Das spricht dafür, dass die
Menschen Sorten aus ihrer Heimat mitbrachten und den Anbau ausprobierten.
Ähnliches gilt auch für Nutztiere wie Rinder. Auch Kulturfolger wie die
Hausmaus sowie Parasiten und Krankheitserreger waren mit im neolithischen
„Gepäck“.
## Migration brachte neue Impulse
„Auf diese frühen Entwicklungen und Migrationsströme geht vieles aus
unserem alltäglichen Leben zurück. Umso wichtiger ist es, mehr darüber zu
erfahren“, betont die Archäologin Barbara Horejs. Besonders viele offene
Fragen gibt es noch zum Sozialleben und den Strukturen der Gesellschaft.
In den Siedlungen im Balkan lebten die Menschen vermutlich anders als an
der Ägäis – gleichzeitig brachte die Einwanderung auch neue kulturelle
Impulse. Wie diese ausgesehen haben, darüber lässt sich bisher nur
spekulieren.
Zum Glück mangelt es der Archäologie nicht gerade an möglichen Fundorten.
Im Balkan, an der Ägäis, vielleicht auch in Nordafrika gibt es noch viele
Spuren des Neolithikums zu entdecken. Sie könnten unser Bild von der
Sesshaftwerdung weiter verändern – und zeigen, wie vielfältig die Wege in
ein Leben mit Haus und Herd wirklich waren.
2 Jul 2025
## LINKS
[1] /Museen-und-Archaeologie-im-Irak/!6063222
[2] /Wirtschaftskrise-im-Libanon/!6081884
## AUTOREN
Birk Grüling
## TAGS
Archäologie
Landwirtschaft
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Menschheit
Anthropologie
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Naturwissenschaft
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