| # taz.de -- Evolutionäre Anthropologie: Wer war der Denisova-Mensch? | |
| > Fingerknochen aus einer sibirischen Höhle revolutionierten das | |
| > Verständnis der Menschheitsgeschichte. Forschende auf den Spuren der | |
| > Denisova-Menschen. | |
| Bild: Archäologen bei der Arbeit in der sibirischen Denisova-Höhle | |
| Wissenschaftliche Sensationen messen sich nicht immer an ihrer Größe. Dies | |
| gilt auch für den ersten Nachweis eines Denisova-Menschen. Im Jahr 2008 | |
| entdeckten Forschende einen winzigen Fingerknochen in einer sibirischen | |
| Höhle. Zunächst hielt man ihn für den Knochen eines Neandertalers. Doch | |
| anstatt in einem russischen Museumsarchiv zu verstauben, gelangte der | |
| Knochen ins Labor von Johannes Krause am Max-Planck-Institut für | |
| evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Dort entnahm man eine winzige Probe | |
| und sequenzierte die mitochondriale DNA, die Erbsubstanz in den | |
| „Kraftwerken“ unserer Zellen, die ausschließlich von der Mutter vererbt | |
| wird und besonders nützlich ist, um frühe Verwandtschaftsverhältnisse in | |
| der Menschheitsgeschichte zu entschlüsseln. | |
| Das Ergebnis verschlug den Forschenden die Sprache. „Es war ein | |
| Freitagnachmittag, als wir erkannten, dass wir eine bisher unbekannte | |
| Menschenform entdeckt hatten. Die DNA unterschied sich an 400 Stellen von | |
| den Erbinformationen moderner Menschen, wohingegen sich Neandertaler und | |
| heutige Menschen nur an 200 Stellen unterscheiden“, berichtet Johannes | |
| Krause. Noch am selben Tag rief er die gesamte Abteilung, inklusive des | |
| späteren Nobelpreisträgers Svante Pääbo, zusammen. Gemeinsam überprüften | |
| sie die Ergebnisse – immer und immer wieder. Doch das Resultat blieb | |
| unverändert: Das junge Mädchen, das vor etwa 70.000 Jahren seinen Finger | |
| einbüßte, war ein Denisova-Mensch – benannt nach der gleichnamigen Höhle im | |
| sibirischen Altai-Gebirge. Diese Menschenform tauchte vor etwa 400.000 | |
| Jahren in Asien auf und lebte zeitgleich mit modernen Menschen und | |
| Neandertalern. Letztere überdauerte sie vermutlich sogar – einige Spuren | |
| könnten jünger als 50.000 Jahre, vielleicht sogar 20.000 Jahre sein. | |
| Wie die Vertreter dieser neuen Menschenform genau aussahen, was sie aßen | |
| und wie sie lebten, darüber ist wenig bekannt. „Mithilfe der Gene können | |
| wir bisher keine Gesichter rekonstruieren. Aber wir konnten zum Beispiel | |
| zeigen, dass das Mädchen aus der Denisova-Höhle vermutlich eher dunkle | |
| Haare und eine dunkle Haut hatte“, sagt Krause. Bis heute sind Funde, die | |
| sich eindeutig dem Denisova-Menschen zuordnen lassen, rar. Gerade einmal | |
| sieben Fossilien wurden offiziell publiziert. In der Denisova-Höhle wurden | |
| noch zwei Backenzähne gefunden. Aus dem Hochland von Tibet stammen ein | |
| 160.000 Jahre alter Unterkiefer und eine 40.000 Jahre alte Rippe. Es gibt | |
| noch einige altsteinzeitliche Zähne und Knochen, unter anderem aus China, | |
| die ebenfalls zu den Denisova-Menschen passen könnten. Im Telefoninterview | |
| spricht Krause von einigen spannenden Vorträgen und anstehenden | |
| Publikationen zu diesen Funden. | |
| Einer dieser „Verdachtsfälle“ wurde im April 2025 der Öffentlichkeit | |
| vorgestellt: ein Kieferfragment vom Meeresboden des Penghukanals bei | |
| Taiwan. Das Fossil lag viele Jahre unbeachtet im taiwanischen | |
| Naturkundemuseum. Es wurde lange Zeit Säugetieren aus dem Pleistozän | |
| zugeschrieben. Die Meeresenge gehörte zeitweise zum asiatischen Festland; | |
| immer wieder werden hier Fossilien von prähistorischen Säugetieren | |
| gefunden. Besonders niedrig war der Meeresspiegel vor knapp 190.000 Jahren | |
| und vor 70.000 Jahren – das liefert auch den Zeitpunkt für die Datierung | |
| für diesen Fund. Eine Altersbestimmung oder gar eine DNA-Analyse war | |
| nämlich schlicht nicht möglich. Die Jahrtausende auf dem Meeresboden hatten | |
| ihre nachhaltigen Spuren hinterlassen, wie auch die völlig zufällige | |
| Bergung durch Fischer. | |
| ## Auffallend große Backenzähne | |
| „Stattdessen konnten wir Proteine aus den Kieferknochen und Backenzähnen | |
| gewinnen. Mindestens zwei der über 4.000 Aminosäurereste kommen nur bei den | |
| Denisova-Menschen vor“, erklärt Frido Welker, Professor für Biomolekulare | |
| Paläoanthropologie an der Universität Kopenhagen. Eins davon sei am | |
| Zahnwachstum beteiligt, das andere komme in Knochenfasern vor. Die Analyse | |
| der Proteine gilt zwar als ungenauer als eine Genomuntersuchung. Dafür | |
| zersetzen sich einige der im Skelett vorhandenen Proteine deutlich | |
| langsamer als DNA und lassen sich deshalb in älteren und schlecht | |
| erhaltenen Fossilien nachweisen. Auch anatomisch spricht einiges für diese | |
| These. Der Kieferknochen ist verhältnismäßig dick und die Zähne sind groß. | |
| Die auffallend großen Backenzähne sind eines der wenigen bekannten Merkmale | |
| der Denisova-Menschen. | |
| „Dieser neue Fund liefert vor allem Einblick in das große | |
| Verbreitungsgebiet der Menschenform“, erklärt Welker. Der Fundort liegt | |
| etwa 4.000 Kilometer südlich der sibirischen Höhle und etwa 2.000 Kilometer | |
| südlich des tibetischen Hochlands. Klimatisch war es dort – ähnlich wie | |
| heute – deutlich milder als an den anderen [1][Fundstellen in Sibirien] und | |
| Tibet. Das spricht dafür, dass sich die Denisova-Menschen an viele | |
| verschiedene Klimazonen anpassen konnten – von Wäldern und Steppen über | |
| Gebirge bis zu warmen, feuchten Regionen. Bislang schrieb man diese | |
| Anpassungsfähigkeit vor allem den modernen Menschen zu. | |
| Und noch etwas brachten die genetischen Analysen ans Licht: Ähnlich wie die | |
| [2][Neandertaler] haben auch die Denisova-Menschen Spuren in unserem | |
| modernen Erbgut hinterlassen. „Schuld“ daran ist vor allem der rege | |
| Austausch von Körperflüssigkeiten mit Homo sapiens und Neandertalern. So | |
| entdeckten die Forschenden die Knochenfragmente eines 13-jährigen Mädchens, | |
| Denny getauft, dessen Mutter eine Neandertalerin und der Vater ein | |
| Denisova-Mensch war. Auch mit modernen Menschen gab es solche „Hybride“ | |
| vermutlich häufiger. | |
| So wurde im Genom von heutigen Menschen im tibetischen Hochland ein Gen | |
| entdeckt, welches vom Denisova-Menschen stammt und für eine besonders gute | |
| Anpassung an die Höhenluft sorgt. Bei den australischen Ureinwohnern und | |
| den Menschen in Papua-Neuguinea zeigte sich ein besonders hoher Anteil von | |
| Denisova-Genen. Im Pleistozän gehörten diese Regionen noch zum asiatischen | |
| Festland – und damit möglicherweise zum Verbreitungsgebiet der | |
| Denisova-Menschen. Ihr nicht unerheblicher Anteil im modernen Genom spricht | |
| für eine hohe Populationsgröße – jedenfalls für steinzeitliche | |
| Verhältnisse. Im gesamten ostasiatischen Raum lebten vermutlich bis zu | |
| 50.000 Denisova-Menschen gleichzeitig und hinterließen entsprechend viele | |
| Spuren. | |
| ## Mehr Forschung notwendig | |
| Einige davon werden Archäologinnen und Archäologen in den nächsten Jahren | |
| noch finden – sowohl in Sibirien als auch im tibetischen Hochland gibt es | |
| immer noch Grabungen. Andere liegen vermutlich schon vor unserer Nase, | |
| glaubt Johannes Krause. „Es gibt einige bekannte Funde, bei denen es sich | |
| um Denisova-Menschen oder direkte Verwandte handeln könnte“, sagt er. Um | |
| diese These zu prüfen, müsste man sämtliche Homo-Fossilien aus Asien im | |
| Alter zwischen 50.000 und 400.000 Jahren mit DNA- oder Proteinanalysen | |
| untersuchen. | |
| Ein Kandidat für diese „Umschreibung“ könnten zum Beispiel die | |
| Flores-Menschen aus Indonesien sein. Sie wurden 2004 auf einer Insel | |
| entdeckt und als eigene Menschenform identifiziert – den Homo floresiensis. | |
| Diese Menschen waren kaum größer als ein Meter und lebten vor mehr als | |
| 60.000 Jahren. Einige Forschende halten es nicht für ausgeschlossen, dass | |
| es sich um einen Zweig der Denisova-Menschen handeln könnte, der durch das | |
| Leben auf der Insel „schrumpfte“. Um solche Vermutungen seriös zu prüfen, | |
| bedarf es weiterer Laboruntersuchungen. Sie könnte helfen, unser Bild über | |
| die bisher sehr unbekannte Menschenform weiter zu vervollständigen. | |
| 9 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Birk Grüling | |
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