| # taz.de -- Sprachförderung im Vorschulalter: Noch nicht im Raster | |
| > Die ersten Lebensjahre sind zentral für gute Bildungschancen. Bund und | |
| > Länder wollen deshalb mehr Sprachförderung. Das allein wird nicht | |
| > reichen. | |
| Bild: In Sprachkitas wie hier in München gelingt der Spracherwerb besonders gut | |
| Berlin taz | Diese Woche erlebt der deutsche Bildungsföderalismus ein | |
| Novum: Am Donnerstag, wenn sich Bundesministerin Karin Prien und die | |
| Präsidentin der Bildungsministerkonferenz (BMK) Simone Oldenburg im Schloss | |
| Bothmer an der Ostsee mit ihren Länderkolleg:innen treffen, sind die | |
| beiden wichtigsten Bildungspolitikerinnen im Land erstmals nicht nur für | |
| Schulen zuständig – sondern auch für Kitas. | |
| Prien hat im Bundeskabinett ein [1][Super-Ministerium für Bildung, Familie, | |
| Senioren, Frauen und Jugend] übernommen. Die in diesem Jahr turnusmäßige | |
| BMK-Präsidentin Oldenburg ist in ihrer Heimat Mecklenburg-Vorpommern als | |
| Bildungsministerin ebenfalls für Kitas zuständig. In den meisten Ländern | |
| ist das – wie bis vor Kurzem im Bund – getrennt. | |
| Die Christdemokratin Prien und die Linkenpolitikerin Oldenburg sind sich | |
| einig, dass die Bereiche besser bei ein und derselben Person aufgehoben | |
| sind. „Um Bildung von Anfang an entlang der Bildungsbiografie“ zu denken, | |
| wie Prien es kürzlich auf einer Veranstaltung zu Kita-Fachkräften | |
| formulierte. Auch bei der Frage, wo Bund und Länder dringend nachsteuern | |
| müssen, um Kindern mit schlechteren Startchancen künftig gerechter zu | |
| werden, scheinen Prien und Oldenburg ähnlich zu ticken. | |
| So wollen beide die Übergänge von der Kita zur Grundschule stärken – und | |
| bereits in der Kita mit verbindlicher Sprachförderung beginnen. Prien kann | |
| sogar darauf hoffen, dass die Länder ihr das forsche Versprechen aus dem | |
| Koalitionsvertrag, einen bundesweiten Sprachtest für Kinder mit vier Jahren | |
| einzuführen, verzeihen. Schließlich entscheiden darüber: die Länder. | |
| ## 16 verschiedene Systeme | |
| Aktuell testen nur Hamburg, Bremen und seit diesem Jahr auch Bayern alle | |
| Kinder im Vorschulalter auf ihre Deutschkenntnisse. In anderen Ländern sind | |
| die Sprachstandserhebungen bislang freiwillig, etwa in Hessen. | |
| Nordrhein-Westfalen hingegen testet nur Kinder, die mit vier nicht in die | |
| Kita gehen. Baden-Württemberg nur die, die bei den kinderärztlichen | |
| Untersuchungen sprachlich auffallen. Das Problem: Vielerorts fallen so | |
| Kinder, die eigentlich schon vor der Schule gezielte Förderung bräuchten, | |
| durchs Raster. Flächendeckend wird der Sprachstand meist erst zur | |
| Einschulung erhoben. | |
| Deshalb planen oder erwägen mehrere Länder, einen verpflichtenden | |
| Sprachtest für alle Kinder mit vier Jahren samt entsprechenden | |
| Fördermaßnahmen einzuführen, darunter Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen | |
| oder Rheinland-Pfalz. „Frühe sprachliche Bildung ist der Schlüssel zu mehr | |
| Chancengleichheit“, begründet das der rheinland-pfälzische Bildungsminister | |
| Sven Teuber in der taz. | |
| Der SPD-Politiker begrüßt den Vorschlag, bundesweit verbindliche | |
| Sprachstandserhebungen einzuführen, verweist aber auch auf andere | |
| hilfreiche Schritte. Etwa die vorgezogene Schulanmeldung, die | |
| Rheinland-Pfalz erstmals im Februar erprobt hat. Die Idee: Alle Kinder | |
| müssen bereits 1,5 Jahre vor der Einschulung gemeldet werden. Wer keine | |
| Kita besucht und Bedarf hat, bekommt Sprachförderung. | |
| Wie dringend nötig solche Maßnahmen sind, zeigen die seit Jahren sinkenden | |
| Lese- und Sprechfähigkeiten an Grundschulen. Mittlerweile [2][verfehlt | |
| jedes vierte Kind die Mindeststandards]. Besonders schlecht schneiden | |
| Kinder ab, die zu Hause kein Deutsch sprechen, oder die aus einem | |
| Nichtakdemikerhaushalt kommen. Die jüngste Grundschulstudie Iglu hat | |
| nachgewiesen, dass diese Kinder im Vergleich zu ihren sozial privilegierten | |
| Mitschüler:innen in der vierten Klasse bereits einen Rückstand von je | |
| einem ganzen Schuljahr aufweisen. | |
| ## Umstrittene Vorschule | |
| Die Ministerien haben als erste Gegenmaßnahme im Jahr 2022 das Fach Deutsch | |
| an Grundschulen gestärkt und unter anderem die Lesezeit erhöht. Klar ist | |
| aber auch: Ohne Förderung im Vorschulalter dürften diese Maßnahmen eine | |
| begrenzte Wirkung haben. Neben verbindlichen Tests wollen aktuell mehrere | |
| Länder, etwa Sachsen, [3][auch ein verpflichtendes Vorschuljahr] einführen. | |
| Die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) hat sogar | |
| eine dreijährige Vorschule ins Spiel gebracht. | |
| Doch hier fangen die Konflikte an: Viele Kitas hadern mit der Rolle, die | |
| die Politik ihnen zugedacht hat. Sie sehen sich nicht als | |
| Erfüllungsgehilfen für funktionierende Schule. Das wurde Anfang dieser | |
| Woche auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung zu | |
| Sprachförderung an Kita und Schule deutlich. | |
| Dort beschrieb der Geschäftsführer des Kitaträgers Fröbel, Stefan Spieker, | |
| dass Konzepte wie Vorschule, Sprachtests und zusätzliche Förderung in | |
| seinen 240 Einrichtungen auf große Skepsis stießen. „Kinder gezielt nach | |
| festgestellten Defiziten zu fördern, passt nicht zu dem ganzheitlichen | |
| Ansatz, den viele Kitas verfolgen“, sagte Spieker. Bei flächendeckenden | |
| Sprachtests und entsprechenden Fördermaßnahmen sieht er die Gefahr, dass | |
| Kinder schon früh „selektiert und diskriminiert“ würden. | |
| Stattdessen plädiert Spieker dafür, genügend Ressourcen für eine | |
| alltagsintegrierte Sprachförderung zur Verfügung zu stellen. Dass die | |
| Bundesregierung das von der Ampel beerdigte Programm der „Sprachkitas“ | |
| wieder aufleben lassen möchte, begrüßt Spieker. Über das Programm waren | |
| bundesweit rund 7.000 Sprachfachkräfte beschäftigt worden. | |
| ## Hoffnung auf Sprachkitas | |
| Aus Sicht der Politik schließen sich alltagsintegrierte und gezielte | |
| Förderung nicht aus. Auch Bildungsforscher:innen verweisen auf | |
| Hamburg, das als erstes Land systematisch Sprachstände erhoben hat und | |
| damit große Erfolge erzielt. So hat sich der Stadtstaat in den letzten | |
| Jahren bei Vergleichsstudien in der vierten oder neunten Klasse nicht oder | |
| nur geringfügig verschlechtert, entgegen der meisten anderen Länder. | |
| Doch auch, wenn sich Bund, Länder und die immerhin rund 60.000 überwiegend | |
| privaten Kitaträger darauf verständigen, wie Sprachförderung am besten | |
| aussieht, bleibt ein Problem ungelöst: die fehlenden Kitaplätze vor allem | |
| in Westdeutschland. | |
| Studien belegen, dass vor allem sozial benachteiligte Familien häufig das | |
| Nachsehen haben. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) etwa | |
| wies nach, dass die Betreuungschancen für armutsgefährdete Kinder unter | |
| drei Jahren nur halb so groß sind wie für Kinder aus nicht prekären | |
| Verhältnissen. Auch gibt es in ärmeren Stadtvierteln oft weniger | |
| Kitaplätze, fand kürzlich das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) | |
| heraus. Besonders häufig von Armut betroffen sind Familien mit | |
| Zuwanderungsgeschichte. | |
| Seyran Bostancı vom Deutschen Zentrum für Integrations- und | |
| Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin spricht deshalb von „institutionellem | |
| Rassismus“. Schließlich kämen migrantische Familien auch besonders schwer | |
| an einen Kitaplatz. „Es reicht nicht aus, bei Eltern für einen Kitabesuch | |
| zu werben, wie es viele Politiker:innen aktuell tun“, sagt Bostancı | |
| der taz. Damit würde die Verantwortung auf diejenigen abgewälzt, die an den | |
| systemischen Hürden scheitern. | |
| ## Hürden für migrantische Kinder | |
| In ihren Studien konnte Bostancı beispielsweise herausarbeiten, dass | |
| institutionalisierte Aufnahmeprozesse wie intransparente Wartelisten in | |
| Berlin oder Ideen einer „vermeintlich guten Mischung“ dazu beitragen, dass | |
| migrantischen Kindern der Zugang zu einem Kitaplatz verwehrt werde, vor | |
| allem in Stadtteilen mit erhöhtem Migrationsanteil. Offenbar gingen Kitas | |
| davon aus, dass Kinder mit Migrationsgeschichte oder die Arbeit mit deren | |
| Eltern mehr Aufwand bedeuteten, so Bostancı. Aus ihrer Sicht wäre es | |
| wichtig, Fachkräfte für das Thema zu sensibilisieren und zu | |
| professionalisieren – und mehr Geld in die Bildungsqualität zu investieren. | |
| Wie wichtig der Kitaplatz für die Sprachentwicklung ist, weiß auch Jutta | |
| von Maurice vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LifBi). Sie | |
| untersucht Bildungswege von Geflüchteten. Dabei hat sie herausgefunden: | |
| Wenn eine geflüchtete Familie für ihr vierjähriges Kind eine Kita findet, | |
| liegt die Chance auf Sprachförderung bei gut 30 Prozent. Bei den Kindern, | |
| die keine Kita besuchen, sind es nicht mal sieben Prozent. „Die | |
| Kindertageseinrichtung ist also hier der Schlüssel für den Zugang“, sagt | |
| von Maurice der taz. | |
| Dass es für bestimmte Gruppen teils noch große Hürden gibt, ist den | |
| Ministerien bewusst. Sie versuchen, im Dialog mit den Kommunen gerechtere | |
| Zugänge zur Kita zu finden. Wie das konkret gelingen kann, wenn immer noch | |
| Tausende Plätze fehlen, ist unklar. | |
| Immerhin beim Kita-Ausbau gibt es gute Nachrichten: Am Dienstag hat | |
| Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) grünes Licht für die geplanten | |
| Milliardeninvestitionen in Kitas gegeben. Im nächsten Jahr stehen 6,5 | |
| Milliarden Euro an Bundesgeldern zur Verfügung – mehr als dreimal so viel | |
| wie unter der Ampel. Karin Prien darf wohl mit einem warmen Empfang auf der | |
| Bildungsministerkonferenz rechnen. | |
| 25 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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