# taz.de -- Lyrikerin Ines Berwing: Heimisch in der Überfrachtung | |
> Ines Berwing lässt ein lyrisches Ich aus unzähligen Stimmen | |
> zusammenwachsen. „Zertanzte Schuhe“, wie das Märchen, heißt ihr | |
> Gedichtband. | |
Bild: Texte von Ines Berwing rütteln das innere Auge wieder wach | |
Häuser beginnen zu fliegen, Väter werden zu fetten Fischen, und das Wort | |
trägt einen Pelz. Wie selbstverständlich flicht Ines Berwing in ihrem | |
zweiten Gedichtband „zertanzte schuhe“ Märchenhaftes in den Alltag. Schon | |
sitzen nach Zucker bettelnde Affen auf dem Bett, und ein unsichtbarer Bär | |
tanzt vor dem Haus. | |
Dabei dienen die Fantasieelemente nie zur Flucht aus der Realität, die wir | |
zu kennen meinen, die sich in Form von tiefen Seen aus Geld, von Autobahnen | |
und Überforderung eher unangenehm zu Wort meldet: „blauwale und eine qualle | |
als krallende termin / frist, die dein einziger freund ist, ein | |
tintenfisch. / wie bannt man das rot zurück in seine fratze? / vor welchen | |
himmel spannt man sein zelt?“ | |
Vielmehr leuchtet mit Berwing ein: Das Fantastische war schon immer Teil | |
unserer Wirklichkeit. | |
## Zyklen gegen die Angst | |
Dass die 1984 geborene Autorin, deren erster Gedichtband „muster des | |
stillen verkabelns“ 2019 vom [1][Berliner Haus für Poesie] zu den besten | |
Lyrikdebüts des Jahres gewählt wurde, nicht nur Lyrik, sondern [2][auch | |
Drehbücher schreibt], bezeugt die starke Visualität der sieben | |
Gedichtzyklen. Jedoch lassen sich die Bilder nie im Einzelnen erfassen, | |
sondern sie legen sich übereinander, fließen ineinander und auch nach | |
Beendigung eines Gedichts weiter. | |
Auch das lyrische Ich ist kein festes. Es wächst aus unzähligen | |
Körperteilen, menschlichen und nichtmenschlichen Stimmen zusammen, die | |
gleichberechtigt sind. Oft scheint es suchend, und oft spricht ein Kind. | |
Berwing schreibt mit dem Unbewussten voran. Erinnerungen platziert sie in | |
zunächst unwahrscheinlich scheinenden Wirklichkeiten. Auch | |
Autobiografisches fließt mit ein, etwa ein jahrelang [3][unerfüllter | |
Kinderwunsch]: „biss ich dem schwundwunsch den / kinderwunsch aus der | |
pockennarbigen haut, ein bissiges / biest mit TV-blauem blut“. In den | |
entstehenden Realitäten gibt sie Emotionen und Ahnungen, die in der | |
Alltagssprache keine Heimat finden, einen Platz, immer wieder auch dem | |
Schmerz. | |
Derweil verlieren die Gedichte nie den Boden unter den Buchstaben. Während | |
Berwing Bilder fließen lässt, hat sie ihre Worte vollständig unter | |
Kontrolle. Jedes einzelne Wort, teilweise jeder Buchstabe scheint | |
genauestens abgewogen und wohlplatziert. Wortneuschöpfungen sorgen nicht | |
für Stolpern, vielmehr für staunendes Nicken. Oder in Berwings Worten: | |
„sprachfehler sind meine sparsamen mittel“. | |
Unheimliche Bilder | |
Auch die Form sorgt für Rückhalt und Rückgrat. Die fast durchgängig | |
dreizeiligen Strophen geben dem traumgleichen Bildquell einen Rahmen, | |
stellen Balance her. Die Märchenmotivik sowie psychische Abgründe finden im | |
zentral platzierten Gedichtzyklus „dämmerstücke“, einer Antwort auf | |
Yevgeniy Breygers „Königreich“- Zyklus, ihren Höhepunkt. Frauen mit dünn… | |
Knochen, bellende Kinder an Leinen, krötengleiche Götter und zertanzte | |
Schuhe, alle seltsam stumm, bilden ein unheimliches Bild nach dem nächsten. | |
Ein seltsamer Effekt beim Lesen: Man beginnt sich in der Überfrachtung und | |
in der Unheimlichkeit heimisch zu fühlen. | |
Die sieben Gedichtzyklen sind mal mehr, mal weniger „Zyklen gegen die | |
Angst“, allenfalls schreiten sie mit ihr voran und fallen auch mit in | |
Abgründe. Weder verschweigen sie die Angst, noch schreiben sie sie | |
notwendig in etwas Positives um. Berwing lässt Fragen unbeantwortet, | |
Lösungen offen, den Schmerz so stehen. Das bewahrt zwar nicht vor dem Fall, | |
aber davor, in Angst zu versinken. | |
Wenn Formen der Resilienz aufgezeigt werden, dann sind es leise. Manchmal | |
scheint der stärkste Widerstand das Fallenlassen. „Das wolkenlose enge | |
verästeln / von ängsten: / ihr nagen überhört deinen schlaf.“ Und eines | |
wird dann doch deutlich: das Schreiben kann helfen, oder: „und rieb meine | |
dunklen, uralten / augen wieder wach an den wörtern.“ | |
26 May 2025 | |
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Yi Ling Pan | |
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