| # taz.de -- Opferfest in Gaza: 5.000 Euro für ein Schaf | |
| > Im Gazastreifen steht am Freitag der höchste muslimische Feiertag an. | |
| > Durch den Krieg können sich nur noch die Wenigsten Tiere zum Schlachten | |
| > leisten. | |
| Bild: Zerstörung im Hintergrund, ein wenig Fleisch im Vordergrund: Abu Hasiras… | |
| Gaza-Stadt/Berlin taz | Jedes Jahr, sagt Ashraf al-Sawwaf, habe er mit | |
| seiner Familie zum Opferfest ein Schaf gekauft, es geschlachtet, das | |
| Fleisch gemeinsam gegessen. Den Kindern seiner Familie habe er neue Kleider | |
| gekauft, ihnen Geschenke gemacht – so ist es Tradition zu diesem | |
| [1][höchsten Fest] im islamischen Jahr. Schon im letzten Jahr war jedoch | |
| alles anders. Al-Sawwaf stammt aus dem Norden des Gazastreifens, mit seiner | |
| Familie war er damals in den Süden vertrieben worden: „Wir konnten es uns | |
| einfach nicht leisten“, sagt er, „und auch dieses Jahr wird es kein Opfer | |
| geben“. | |
| Am Opferfest gedenken Muslime des Propheten Ibrahim, der dem Stammesvater | |
| Abraham im Christen- und Judentum entspricht. Gott weist ihn an, seinen | |
| Sohn zu opfern. Als Gott sieht, dass Ibrahim und auch der Sohn dazu bereit | |
| sind, gebietet Gott ihm doch Einhalt, und Ibrahim opfert stattdessen einen | |
| Widder. In Erinnerung daran schlachtet, wer es sich leisten kann, am | |
| Opferfest ein Tier. | |
| Vor dem Krieg, sagt Hammam al-Zarqa, habe er den besten Umsatz des Jahres | |
| vor dem Opferfest gemacht. Mit seiner Familie züchtet er Schafe, Ziegen, | |
| Kühe, Hühner, Tauben und Enten – schon seit über 20 Jahren. Zwei Farmen im | |
| Norden des Küstenstreifens betrieben sie vor [2][dem 7. Oktober 2023], als | |
| der Krieg im Gazastreifen nach dem Überfall der Hamas in Südisrael | |
| begann. | |
| Die eine, nahe der Grenze gelegen, sei völlig zerstört. Die andere, im | |
| Viertel al-Naqaf von Gaza-Stadt, musste im Laufe des Krieges ebenfalls | |
| evakuiert werden und wurde durch Angriffe beschädigt. Insgesamt siebenmal, | |
| sagt er, habe die Familie flüchten müssen.Mittlerweile ist die Familie nach | |
| al-Naqaf zurückgekehrt. | |
| Und al-Zarqa hat einen provisorischen Stall gebaut, im ehemaligen Garten, | |
| erzählt er: Mit Dächern und Blech und Planen, und zusammengewürfelten | |
| Metallgittern und Brettern als Zaun. Allein an Schafen habe er vor dem | |
| Krieg über 500 besessen. Heute sind es etwa 75. Manche der Tiere, erzählt | |
| er, wurden bei Luftangriffen getötet oder geklaut, andere konnte er retten | |
| – und verkaufte sie dann während der [3][Waffenruhe von Mitte Januar bis | |
| Mitte März]. | |
| ## Zehnmal mehr für ein Schaf | |
| Al-Zarqa verkauft seine Schafe lebendig, der Käufer bringt sie dann zum | |
| Schlachter. Ein Tier, sagt er, koste derzeit 3.000 jordanische Dinar, über | |
| 3.700 Euro. Vor dem Krieg seien es etwa 300 Dinar gewesen, circa 370 Euro. | |
| „Wer kann sich das leisten?“, fragt er, und antwortet gleich selbst: | |
| „Internationale Organisationen von außerhalb des Gazastreifens“, die diese | |
| dann als Spende an die Bevölkerung verteilen lassen. Auch er selbst wird | |
| zum Opferfest kein Schaf schlachten. Manchmal, wenn Metzgerbetriebe bei ihm | |
| Tiere kauften, bringe er sie hin und nehme ihnen ein Kilo des Fleisches ab. | |
| Das muss reichen – für den 38-Jährigen, seine Frau und die neun Kinder. | |
| Die Preise, die al-Zarqa verlangt, sind hoch, das weiß er. Er hat keine | |
| Wahl – Rohstoffe sind fast unbezahlbar geworden: Die Jungtiere selbst, | |
| erzählt er, seien viel teurer als vor dem Krieg. Während der Waffenruhe | |
| hätten sie den Beduinen im Süden des Gazastreifen einige abgekauft. Damals | |
| zog das israelische Militär aus dem Netzarim-Korridor ab – [4][einer | |
| Straße, die den Gazastreifen horizontal zerschneidet, mit einer breiten | |
| Pufferzone.] Dieser trennte während des Großteils des Krieges Nord- von | |
| Südgaza, während der Waffenruhe war die Passage wieder möglich. Nun, so | |
| berichten lokale Quellen der taz, ist der Korridor wieder unpassierbar. | |
| Das Futter, sagt al-Zarqa, sei das größte Problem: Ein Sack koste über | |
| 2.500 Schekel, vor dem Krieg seien es 100 gewesen. Umgerechnet ein | |
| Preissprung von etwa 25 Euro auf fast 630 Euro. Auch medizinische | |
| Versorgung sei unerschwinglich geworden – oder gar nicht erst zu finden. | |
| „Die Preise haben sich mindestens verzehnfacht“, sagt er. | |
| ## Dann begann der Krieg von Neuem | |
| Dass der Preis für Schafe so hoch ist, beschäftigt auch Adham Abu Hasira. | |
| Auch er betrieb einmal eine Farm mit Schafen und Kühen. Sie existiert nicht | |
| mehr; wo sie einmal stand, baute die israelische Armee den | |
| Netzarim-Korridor. Die Times of Israel berichtete im vergangenen Winter, | |
| [5][dass dieser etwa 47 Quadratkilometer Land einnehme]. Das entspricht | |
| circa 13 Prozent der gesamten Landfläche des Gazastreifens. | |
| Seine Farm sei von der israelischen Luftwaffe bombardiert worden, erzählt | |
| er – mit den Tieren darin. Dass das Gebiet evakuiert werden sollte, habe er | |
| nicht gewusst. „Der Angriff war ein Schock“, sagt er. Er selbst und seine | |
| Familie flohen dann in den Süden des Gazastreifens. Während der | |
| Waffenruhe seien sie wieder zurückgekehrt, in den Norden, nach Gaza-Stadt. | |
| Wieder Tiere aufzuziehen, sei keine Option gewesen: Seit dem Ende der | |
| Waffenruhe Mitte März ist das israelische Militär im Netzarim-Korridor | |
| wieder präsent. „Mit den Tieren, dem gelagerten Futter und dem ganzen | |
| Equipment haben wir damals bestimmt eine halbe Million US-Dollar verloren“, | |
| sagt Abu Hasira. | |
| Die Kosten, um die Farm an einem anderen Ort wieder aufzubauen, seien hoch, | |
| sagt er – zu hoch. Doch schon vor dem Krieg schlachteten Abu Hasira und | |
| seine Familie die Tiere auch, im Gegensatz zu Hammam al-Zarqa, dem | |
| Schafzüchter. „Der Verkauf von rotem Fleisch ist unser Geschäft“, sagt er. | |
| Und er baut sich nun ein neues auf: Während der Waffenruhe hat er mit | |
| seiner Familie eine kleine Fleischerei eröffnet. | |
| Sie ist spärlich eingerichtet, die Metalltüren zur Straße hin sind rostig. | |
| Das Nachbarhaus ist schwer beschädigt durch den Krieg: Mehrere Wände | |
| fehlen, in den Fensterhöhlen hängen die Metallgerippe der Fensterrahmen. | |
| Eigentlich, erzählt er, habe er den Laden ausbauen wollen, ein Restaurant | |
| daraus machen. Doch dann begann der Krieg von Neuem. | |
| In seiner kleinen Fleischerei kostet 1 Kilogramm Schaffleisch heute 240 | |
| Schekel – etwa 60 Euro. Ein ganzes Schaf koste ihn bis zu 20.000 Schekel, | |
| über 5.000 Euro. „Locker elf Schafe haben wir früher für solche Preise | |
| bekommen“, sagt er. | |
| ## „Das muss aufhören, die Welt muss uns helfen“ | |
| Das Problem, sagt er, sei nicht nur, dass den Menschen das Geld fehlt. Im | |
| Gazastreifen gab es vor dem Krieg wie an den meisten Orten eine Mittel- | |
| und Oberschicht; Geld, das sie vor dem Krieg angespart hatten, liege auf | |
| ihren Konten. Doch an dieses Geld heranzukommen ist schwierig: | |
| Bankautomaten funktionieren nicht mehr. Etwa mit einer App der Bank of | |
| Palestine, ansässig in Ramallah im Westjordanland, kann man Geld an andere | |
| transferieren – aber es auszuzahlen, ist ungleich schwieriger und mit hohen | |
| Gebühren der Geldwechsler auf den Straßen verbunden. | |
| In den palästinensischen Gebieten sind parallel mehrere Währungen im | |
| Umlauf: der israelische Schekel, der jordanische Dinar, aber auch der | |
| US-Dollar. Viele Farmer, sagt Abu Hasira, nähmen nur Bargeld, an das er | |
| kaum herankommt. Die meisten seiner Abnehmer derzeit, bestätigt er, sind | |
| Hilfsorganisationen. | |
| Ashraf al-Sawwaf, der seiner Familie in diesem Jahr kein Opfertier kaufen | |
| kann, sucht täglich die Verteilungen der Hilfsorganisationen auf. „Wenn wir | |
| dort keine Mahlzeit auftreiben können, essen wir abends nur Weizengrütze | |
| und Thymian“. In dem Zelt nahe dem Al-Shifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt, in | |
| dem er lebt, will er zum Opferfest trotzdem Verwandte empfangen. „Es ist | |
| das Erste ohne meine Schwester“, sagt er. Vor zwei Wochen sei sie bei einem | |
| israelischen Luftangriff getötet worden, gemeinsam mit ihrem Ehemann und | |
| den Kindern. Nur die 22-jährige Tochter habe überlebt. Zum Opferfest wolle | |
| er sie besuchen. | |
| Sechsmal, sagt er, sei er vertrieben worden in diesem Krieg. „Das muss | |
| aufhören, die Welt muss uns helfen“, sagt er und beginnt zu weinen.Es wäre | |
| eine Katastrophe, sagt Farmer Hammam al-Zarqa, wenn er noch einmal fliehen | |
| müsste. | |
| „Ich würde versuchen, alle Schafe mitzunehmen. Doch es gibt keine Lastwagen | |
| und keinen Treibstoff, um sie so zu transportieren, wir müssten laufen.“ Er | |
| fürchte, dass sie sich dabei etwas brechen, vor Erschöpfung | |
| zusammenklappen, von Autos angefahren werden könnten. „Ich hoffe, dass sie | |
| zu diesem Opferfest alle verkauft und geschlachtet werden.“ Doch noch mehr | |
| hoffe er, „dass dieser Genozid endet – und die Menschen wieder die | |
| Möglichkeit haben, sich einfach Fleisch zu kaufen“. | |
| 5 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lisa Schneider | |
| Malak Tantesh | |
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