# taz.de -- Humanitäre Hilfe im Gazastreifen: Angst vor noch mehr Chaos | |
> Die humanitäre Hilfe im Gazastreifen soll künftig eine Stiftung | |
> übernehmen, unterstützt von US-Sicherheitsfirmen. Etablierte Helfer sind | |
> misstrauisch. | |
Bild: Gaza Stadt, 21. Mai: Menschen in der Sokar Charity Kitchen, die Essensrat… | |
Die US-Regierung und Israel wollen ab Ende Mai einen neuen Mechanismus in | |
Gang setzen, um humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bringen. Über ihn | |
wird heftig gestritten. Anfang der Woche trafen laut Medienberichten | |
Dutzende Söldner privater Sicherheitsfirmen in Israel ein, die die | |
geplanten Verteilstationen der erst im Februar gegründeten Gaza | |
Humanitarian Foundation (GHF) sichern sollen. Die Hilfe wäre bitter nötig. | |
[1][Seit fast drei Monaten schneidet Israel die rund zwei Millionen | |
Bewohner Gazas von Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff ab, | |
während laut UNO 240.000 Tonnen Hilfsgüter an der Grenze lagern.] Selbst | |
nach Aussagen von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu steht die | |
Bevölkerung kurz vor einer Hungersnot. Täglich tötet Israels Armee Dutzende | |
Menschen bei Bombenangriffen, die Opfer größtenteils palästinensische | |
Zivilisten, Frauen und Kinder. | |
Seit dieser Woche hat Israels Regierung unter massivem internationalem | |
Druck wenige Hilfslieferungen durch etablierte Hilfsorganisationen | |
zugelassen, die aber als völlig unzureichend kritisiert werden. Die | |
Transporte sollen als Überbrückung dienen, bis die GHF ihre Arbeit | |
aufnimmt. | |
## Bewacht durch Privatfirmen | |
GHF-Direktor Jake Wood erklärte dem Sender CNN jüngst, seine Organisation | |
wolle bis Ende Mai einsatzbereit sein. Doch bisher umgeben die | |
undurchsichtige Stiftung vor allem Fragen und Widersprüche. Der Plan der in | |
der Schweiz registrierten GHF sieht die Ausgabe von Hilfsgütern an zunächst | |
vier Verteilstationen vornehmlich im Süden Gazas vor. Zwei private | |
US-Sicherheitsfirmen sollen die Anlagen bewachen. „Die Verteilung wird | |
ausschließlich durch zivile Teams erfolgen“, sagte ein GHF-Sprecher der | |
Financial Times. Die israelische Armee soll die Gebiete um die Stationen | |
sichern. | |
„Ich unterstütze alles, was mehr Hilfe zu den Menschen bringen kann“, sagt | |
der in den USA lebende Aktivist Ahmed Fouad Alkhatib, der aus Gaza stammt. | |
„Doch bei diesem Mechanismus ist nicht klar, wie die Menschen durch | |
Kampfzonen sicher zu den Verteilstationen kommen könnten oder wie zwei | |
Millionen Menschen von so wenigen Ausgabepunkten aus versorgt werden | |
sollen.“ GHF selbst gibt in ihrem Vorschlag an, zunächst nur 1,2 Millionen | |
Menschen versorgen zu können, etwa 60 Prozent der Bevölkerung. Auch dann | |
müsste jede Verteilstation 300.000 Menschen versorgen. Internationale | |
Hilfsorganisationen arbeiteten zuletzt mit Hunderten Ausgabepunkten. | |
Gut sei es immerhin, dass die israelische Armee nicht selbst beteiligt sei, | |
sagt Alkhatib. Der Einsatz der privaten US-Sicherheitsfirmen UG Solutions | |
und Safe Reach Solutions werfe aber ebenso Fragen auf. „Wir wissen nichts | |
über Gesichtserkennung oder sonstige Screeningmethoden, die dort | |
möglicherweise eingesetzt werden sollen und ob diese Daten mit Israel | |
geteilt werden“, sagt Alkhatib. | |
Ein hochrangiger Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, der anonym mit der | |
taz sprach, zweifelt an der Einsatzfähigkeit des Hilfsmechanismus. | |
„Humanitäre Hilfe für zwei Millionen Menschen braucht eine Menge Gerät und | |
erfahrenes Personal, dem die lokale Bevölkerung vertraut. Doch wir wissen | |
nicht, wer für GHF letztlich dort arbeiten soll.“ Wenn sie auf lokale | |
Hilfskräfte zurückgreifen, vermutet er, dürften sie kaum Zeit für eine | |
Überprüfung der Mitarbeiter gehabt haben, wie sie für Beschäftigte vieler | |
internationaler Hilfsorganisationen üblich ist. Die Alternative sei, dass | |
internationale Mitarbeiter Transport und Verteilung übernehmen. „Aber woher | |
sollen die wissen, dass sie in Gaza nicht selbst Hilfe an die Hamas | |
verteilen?“ Israels zentraler Vorwurf lautet, durch die etablierten | |
Organisationen profitiere vor allem die radikalislamistische | |
Palästinensergruppe. | |
## Bevölkerung lebt auf weniger als 30 Prozent des Gebietes | |
Er vermutet einen anderen Grund: Die Zentralisierung der | |
Hilfsgüterverteilung soll die Bewohner des Gazastreifens zwingen, in | |
bestimmte Gebiete nahe den Verteilstationen im Süden umzuziehen. Viele | |
Helfer fürchten, dass die etablierten Hilfsorganisationen langfristig dazu | |
bewegt werden sollen, sich an dem US-israelischen Mechanismus zu | |
beteiligen. | |
Darauf scheint auch GHF-Direktor Wood zu zielen. Die Hilfsorganisationen | |
stünden vor einer Wahl: „Dies wird der Mechanismus sein, durch den Hilfe | |
nach Gaza verteilt werden kann“, sagte er CNN. „Werdet ihr mitmachen?“ | |
Davon werde es abhängen, ob alle versorgt werden könnten. Bisher lehnen | |
etablierte Hilfsorganisationen den Plan ab. „Die Maßnahmen machen | |
humanitäre Hilfe zu einer Waffe“, kritisiert Jonathan Fowler vom | |
UN-Palästinahilfswerk Unrwa. Die UN-Organisationen könnten sich nicht zum | |
ausführenden Organ einer Kriegspartei machen. | |
Die Bewohner von Gaza drängen sich bereits jetzt auf weniger als 30 Prozent | |
des Küstenstreifens zusammen, der Rest des Gebietes ist von Israel zu | |
Kampf- oder Sperrgebiet erklärt. Trotz Unterernährung und Krankheiten | |
schrecken viele vor der erneuten Flucht in den Süden nicht nur zurück, weil | |
Netanjahu selbst eine Rückkehr von Bewohnern jüngst ausgeschlossen hat. Es | |
gibt bisher auch keine Informationen, wie Schwache, Kranke oder Alte die | |
bis zu 20 Kilogramm schweren Hilfspakete von den Verteilstationen zu ihren | |
Unterkünften bringen sollen. | |
Die Hilfe solle „unabhängig und streng überwacht“ verteilt werden, heißt… | |
in dem GHF-Vorschlag, aus dem der Sender France 24 zitiert. So sollten nur | |
jene Hilfe bekommen, die dazu berechtigt seien. Mehrere führende | |
UN-Vertreter haben bestritten, dass die Hamas sich systematisch Hilfsgüter | |
aneigne. Nachprüfen lassen sich die Angaben nicht, Israel verwehrt | |
internationalen Journalisten seit 19 Monaten den unabhängigen Zugang. | |
## Nur etwa 60 Lastwagen pro Tag | |
„Mein größtes Bedenken ist, dass sich der GHF-Plan als wirkungslos | |
herausstellt, um denen Hilfe zu bringen, die sie am meisten brauchen“, sagt | |
Alkhatib. Aktuell sieht der Plan nur etwa 60 Lastwagen pro Tag vor, ein | |
Zehntel dessen, was den Gazastreifen während der Waffenruhe im Januar und | |
Februar erreichte. | |
Unter vielen humanitären Helfern herrscht Misstrauen gegenüber der neuen | |
Stiftung und ihrer Führung. „Es macht den Eindruck, als sei diesmal eine | |
Gruppe von Tech-Unternehmern im Stil von Elon Musk am Werk“, sagt der | |
anonyme humanitäre Helfer. „Sie agieren, als wäre humanitäres Völkerrecht | |
ein Haufen überholter Regeln. Dabei, so die Sorge vieler humanitärer | |
Helfer, könnte der Betrieb eines getrennten, privaten Hilfsmechanismus noch | |
mehr Chaos in den vom Krieg zerstörten Küstenstreifen bringen. Woher die | |
Organisation finanziert wird, ist unklar. | |
Wer zum Führungsteam der Stiftung zählen wird, ist auch noch unklar. Im | |
Gespräch ist Bill A. Miller, ein ehemaliges Mitglied der UN-Abteilung für | |
Gefahrenabwehr. Die Mitarbeit von David Beasley, dem ehemaligen Chef des | |
Welternährungsprogramms, ist bisher nicht bestätigt. Michael Fakhri, der | |
UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Nahrung, fürchtet, dass bewusst auf | |
Privatfirmen gesetzt werde. GHF sei als private Stiftung in der Schweiz | |
angemeldet. „Das schafft ein undurchsichtiges System, in dem es nur schwer | |
möglich ist, jemanden für ein Scheitern zur Verantwortung zu ziehen.“ | |
Einige Kritikpunkte hat auch die GHF mittlerweile anerkannt. In einem Brief | |
an die israelische Regierung fordert sie Verteilstationen auch im Norden. | |
Die Organisation will zudem keine persönlichen Details der Hilfeempfänger | |
mit Israel teilen. | |
Netanjahu hält derweil an den Kriegszielen fest, zu denen die Einnahme des | |
gesamten Gazastreifens gehört sowie der Plan, die Bevölkerung in den Süden | |
und mittelfristig in andere Länder zu drängen. Am Donnerstagmorgen gab der | |
Premierminister seine erste Pressekonferenz seit fünf Monaten: Als | |
Bedingungen für ein Kriegsende nennt er nun neben der Kapitulation der | |
Hamas und der Rückkehr aller Geiseln auch die Umsetzung des Trump-Plans. | |
Dessen Vorhaben, die Palästinenser in andere Länder zu vertreiben, sei | |
„revolutionär“ und „brillant“ – kaum eine Basis für weitere Verhand… | |
mit der Hamas. | |
Daran ändert auch der wachsende Widerstand im Inland wenig. Der | |
linksgerichtete Oppositionspolitiker und ehemalige General Yair Golan | |
warnte, Israel werde zum „Paria-Staat“ und mache sich die „Ermordung von | |
Babys zum Hobby“. Unter Netanjahus Anhängern herrschte Empörung. Netanjahu | |
selbst sprach von Lügenpropaganda gegen Israel. | |
23 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
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