# taz.de -- Die Wahrheit: Am unteren Ufer des Teppichs | |
> In einer grotesk anmutenden Schleifenproduktion werden die Bruchstücke | |
> der Wirklichkeit dorthin gekehrt, wo nichts normal erscheint. | |
In den Provinzen stockte die gewohnte Schleifenproduktion, ohne dass ich | |
mir irgendeiner Schuld bewusst war. Ich machte den ununterbrochenen | |
parallelen Ablauf unterschiedlichster Ereignisse dafür verantwortlich, weil | |
er sich stark überfordernd auswirkte. Niemand schaffte mehr etwas, alles | |
blieb liegen. Es war absehbar, dass nachfolgende Generationen nicht mehr | |
wissen würden, was Schleifen waren. | |
Doch ebenso wenig wie ich mich dafür verantwortlich fühlte, dachte ich | |
daran, die Provinzen zu bereisen und für das Florieren der | |
Schleifenproduktion zu kämpfen. Ich blieb daheim wie ein liegender Akkord. | |
Obwohl ich mich der Welt verschloss, drangen bisweilen Nachrichten zu mir | |
durch. So erfuhr ich von einer Frau, die in ihrem Garten Hunderte von | |
Teekannen ausgrub. | |
Zuerst kam mir in den Sinn, auch ich könne im Garten erstaunliche Dinge | |
ausgraben, aber schon bald stand fest: Ich grub im Garten gar nichts aus. | |
Es lag mir fern, ihn überhaupt zu betreten. Von einem Fenster aus sah ich | |
zu, wie er sich fortwährend veränderte. Manchmal war er mit großen | |
Glasscheiben überdacht wie ein Treibhaus, und eine Zeitlang durchquerte ihn | |
ein stark genutzter Fußweg. | |
Meine Situation entsprach der eines Menschen, der in einem alten Haus | |
darauf wartet, dass das Wort erfüllt werde. Das Zimmer, in dem ich mich | |
zumeist aufhielt, schien mit dem Haus zu tun zu haben, jedenfalls mehr als | |
mit dem Garten. Gleich beim ersten Schritt in dieses Zimmer war ich unter | |
den Teppich geraten. Ob es sich dabei um meinen eigenen Fehler oder den | |
meiner Schuhe gehandelt hatte, wurde nie geklärt. | |
Am unteren Ufer des Teppichs konnte ich die Rufe der Eulen am Fluss hören. | |
Sie klangen fast wie das Lachen ums Haus. Eine ruhige Gegend war das, ganz | |
anders als die Provinzen, wo die Schleifenproduktion lautstark stockte, | |
weil kein Teppich die Geräusche dämpfte. Manche in dieser ruhigen Gegend | |
nannten die Rufe der Eulen „fettarm“, andere ärgerten sich über eine | |
Formulierung wie „Die fettarmen Rufe der Eulen“. | |
Damit das Wort erfüllt werden konnte, hatte ich, bevor ich unter den | |
Teppich geraten war, meine selbstgewählten heillosen Lötarbeiten | |
unterbrechen müssen. Mit den bislang vorliegenden Ergebnissen konsultierte | |
ich nun einen Spezialisten, um sie ihm zu zeigen. | |
„Es ist alles Schrott“, urteilte der Spezialist. „Das müsste Ihnen doch | |
sofort aufgefallen sein.“ Er stützte sich mit beiden Händen auf die Platte | |
seines Schreibtischs und riet mir: „Nehmen Sie Abstand und sehen Sie genau | |
hin. Falls nötig, schließen Sie die Augen oder wenigstens eins.“ | |
Indem ich seinem Rat gemäß ein Auge schloss, nahm sein Profil das Aussehen | |
eines weithin als Ausflugsziel beliebten Flussufers an. Noch im selben | |
Augenblick fasste ich den Entschluss, diesen reizvollen Ort bei nächster | |
Gelegenheit als Spaziergänger zu besuchen. Vielleicht konnten die Eulen | |
etwas mit meinen unvollendeten Lötarbeiten anfangen. | |
23 May 2025 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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