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# taz.de -- Kurdische Gebiete in Syrien: Nicht besser als Assad?
> Die SDF gelten als liberal, doch in ihren Gebieten berichten einige
> Bewohner*innen von Gewalt und Willkür. Ein Besuch in Maskanah und
> Umgebung.
Bild: Kein leichtes Leben: Eine Frau mit Kind zwischen Wassertanks auf der stau…
Maskanah taz | Mindestens fünf Menschen hätten Kämpfer der kurdischen
Streitkräfte SDF vor vier Monaten in seiner Heimstadt Maskanah getötet,
sagt Mohammad. Bis zu sechs weitere hätten sie angeschossen. Unbewaffnet
seien die Toten und Verletzten gewesen, betont er. Mohammad, ein junger
Mann in Lederjacke mit kurzen Haaren, heißt in Wahrheit anders. Seinen
Namen will er aus Angst vor Repressalien nicht in der taz sehen.
In der Kleinstadt Maskanah leben 15.000 Menschen, die meisten Araber*innen,
viele beduinischer Herkunft. Verschiedene Kräfte haben die Stadt seit dem
Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 kontrolliert. Auch im vergangenen
Dezember gab es hier einen Machtwechsel: Nach einer Blitzoffensive der bis
dahin die Region Idlib kontrollierenden [1][Hayat Tahrir asch-Scham (HTS)
übernahm diese den Großteil Syriens] und stürzte Diktator Baschar al-Assad.
Doch in Maskanah marschierten andere Truppen ein – die Streitkräfte der
weiter nordöstlich gelegenen kurdischen Selbstverwaltung in Syrien, genannt
Syrian Democratic Forces (SDF).
„Als die kurdischen Streitkräfte in dieses Gebiet kamen, stahlen sie aus
staatlichen Einrichtungen, Ausstattung aus der Zuckerfabrik etwa. Wir taten
nichts. Aber als sie versuchten, die städtische Wasserpumpe und den großen
Ofen für das Brotbacken zu beschlagnahmen, wurden die Menschen hier laut.
Brot und Wasser wollten sie uns nehmen? Aus der Moschee gab es Aufrufe, das
zu stoppen“, erinnert sich Mohammad.
Einige Einwohner hätten Autoreifen quer über die Autobahn gelegt. Der
29-Jährige gestikuliert in Richtung Straße, ein Ring schimmert an seinem
Finger in der Sonne. Zwei Gruppen von Männern hätten sich vor den Ofen und
die Wasserpumpe gestellt, den Diebstahl so verhindert. Dann seien sie zu
dem Gebäude gezogen, wo sich die SDF-Kämpfer niedergelassen hatten. „Weg
mit euch, ihr tut dasselbe wie das Regime Assads“, hätten sie gebrüllt.
Dann sei aus dem Gebäude geschossen worden. Ein Verwandter Mohammads – 23
Jahre alt, Student – wird tödlich getroffen. Wer kann, sei davongerannt, in
jede Richtung. Zwei Stunden lang hätten die Leichen auf der Straße gelegen,
keiner habe sich getraut, sie aufzusammeln, sagt Mohammad.
## Partner des Westens gegen den IS
[2][Der katarische Sender Al-Jazeera] berichtet am 9. Dezember von
„Auseinandersetzungen zwischen den Einwohner*innen von Maskanah und den
SDF“ und veröffentlicht ein Video, auf dem umher rennende, meist
unbewaffnete Menschen zu sehen sind. Einige fliehen auf Motorrädern, andere
rufen „Raus, raus!“. Zwei halten Stöcke in der Hand, heben sie in die Luft.
Im Hintergrund sind Schusssalven zu hören, immer wieder. In einem weiteren
Post schreibt der Sender, sechs Zivilisten seien durch die Kugeln der SDF
gestorben.
Die SDF-Einheiten haben eigentlich einen guten Ruf: Liberal sollen sie
sein, Frauen gleichberechtigt. [3][Ihr Beitrag im Kampf gegen den
„Islamischen Staat“ (IS),] eine dschihadistische Terrororganisation, die in
Teilen Syriens und des Irak damals ein Kalifat ausrief, war maßgeblich. Die
USA und einige EU-Länder unterstützen sie militärisch und finanziell. Im
Nordosten Syriens haben sie eine Selbstverwaltung errichtet. Als
links-alternatives Projekt in der konservativen arabischen Welt haben sie
weltweit Aufmerksamkeit erlangt.
Gleichwohl gab es in den vergangenen Jahren Beschwerden über
Menschenrechtsverletzungen, etwa in kurdischen Gefängnissen: Ein jüngster
Bericht von Amnesty International spricht von „Tod und Folter“ von
Gefangenen. Die SDF teilten mit, sie würden Verstößen nachgehen, hätten
aber keine Beschwerden vorliegen.
Die SDF besetzt – zum Teil seit dem Fall von Assad, wie in Maskanah, teils
auch seit ihrem Sieg über den IS, einige arabische besiedelte Dörfer und
Städte in Nordsyrien. Die Einwohner*innen von Maskanah sind nicht die
einzigen, die sich über die Lage unter kurdischer Verwaltung beschweren.
Auch an anderen Orten berichten sie der taz von einem Klima der Angst, von
ungerechtfertigten Schikanen. Doch eine Veröffentlichung scheuen sie, die
Angst vor der SDF ist zu groß.
## Dasselbe System?
Schon vor dem 9. Dezember 2024, als die SDF nach Maskanah kam, hatte die
Stadt einige Machtwechsel erlebt: Sieben Kilometer Luftlinie sind es von
hier bis zum Assad-See, 80 bis in die syrische Stadt Aleppo. Raqqah, die
einstige Hauptstadt des „Islamischen Staates“, befindet sich 90 Kilometer
weiter östlich. Wenige Jahre nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs
überrannten Kämpfer des IS diese Region – und damit auch Maskanah und die
umliegenden Dörfer. Maskanah wurde zur Hochburg der Islamist*innen. Sie
errichteten dort einen Scheinstaat, in dem sie mit Folter und drakonischen
Strafen nach radikal-salafistischen Prinzipien herrschten. Erst am 3. Juni
2017, nach tagelanger Belagerung und Kämpfen in den umliegenden Dörfern,
konnten Soldaten der syrischen Regierungsarmee in Maskanah einmarschieren
und die Kleinstadt zurückerobern.
In dieser Stadt, die so viel gesehen hat, steht nun Mohammad in seinem
kleinen Laden und verteilt Orangensaft in Flaschen in den Regalen. Er holt
sein Smartphone aus der Jackentasche, zeigt das Bild eines jungen Mannes
mit Sonnenbrille, gestreiftem Hemd und weißem T-Shirt. Dann noch eines, von
demselben Mann. Darauf weinende Emojis und ein Datum – der 9. 12. 2024.
„Einige Wochen später gingen die SDF zu jeder Familie der Verstorbenen, um
ihnen 5.000 US-Dollar zu geben. Aber wir nahmen das Geld nicht an.“
Videos des Geschehens habe er von seinem Handy gelöscht. Zu viel Angst habe
er, dass die Soldat*innen sie bei Kontrollen finden: Denn wer die Stadt
betreten will, muss erst ihren Checkpoint passieren.
Und man wisse nie, ob man Besuch von der Polizei bekomme, ob man verhört
werde. Die Menschen spionierten sich teils gegenseitig aus, sagt er. „Es
ist dasselbe System wie zur Zeit des Assad-Regimes“, erklärt Mohammad. Ein
Verwandter von ihm sei in Gewahrsam genommen und dort geschlagen worden,
sagt er. „Viele sind festgenommen worden“ – teilweise reichten dafür
bereits Bilder auf dem Smartphone.
## SDF widerspricht Anschuldigungen
„Ich war 58 Tage lang im Gefängnis“, sagt ein in den traditionellen Kaftan
gehüllter Mann, der gerade in dem kleinen Laden einkauft. „Wegen etwas, das
sie auf meinem Handy gefunden haben.“ Auch die anderen Männer im Laden
klagen: Die SDF-Soldat*innen hätten mit ihren Familien einige leerstehende
Häuser besetzt. „In dem Haus meines Onkels wohnen jetzt SDF-Soldaten“, sagt
ein Heranwachsender mit Baseballcap.
Die Schilderungen der Stadtbewohner*innen können nicht unabhängig
überprüft werden. Ein SDF-Sprecher bestritt auf Nachfrage alle
Anschuldigungen. Diese seien falsch und beruhten auf „falschen
Zeugenaussagen und früheren Berichten gegen die Syrischen Demokratischen
Kräfte“. Er schickt zudem einen Link zu einem Post der kurdischen
Verwaltung, die eine Müllaufräumkampagne in Maskanah und Deir Hafer im
Januar ankündigt.
Einfach war das Leben der Menschen in Maskanah und den umliegenden Dörfern
wohl nie. Die Gegend ist ärmlich: Staubige Straßen aus rotem Sand, gesäumt
mit würfelförmigen Bauten aus nackten Ziegeln, auf denen halbfertige Säulen
thronen. Männer in roter Kefiyah fahren auf mit Tüten und Wassertanks
überladenen Mofas, mit dem Gesichtsschleier bedeckte Frauen tragen Kinder
auf dem Arm. Alte Chevrolet- und Scania-Lastkraftwagen, deren Farbe kaum
noch zu erkennen ist, brettern über die Straßen. Etwas weiter verkaufen
schreiende Händler am Straßenrand Gemüse und andere Lebensmittel, die sie
auf Plastikplanen auf dem Boden ausstellen. Eine leere Bushaltestelle ist
von Einschusslöchern durchsiebt.
## Ein hartes Leben
Am Eingang eines an Maskanah grenzenden Dorfes sitzt eine ältere Frau am
Straßenrand im Staub, hält sich den schwarzen Schleier quer über den Mund.
„Wir haben keinen Strom, gar keinen“, sagt im Dorf der Gemeindevorsteher
Mukhtar, der nur seinen Vornamen nennt. Er sitzt in grauem Gewand und
Kefiyah auf dem Teppich seines Wohnzimmers, das nachts auch als
Schlafzimmer dient. Matratzen stapeln sich gegen die nackte Wand. Aus dem
Putz gucken abgetrennte Stromkabel hervor. Alles müsse man per Hand waschen
und in der Nacht sei es sehr dunkel, sagt eine junge Frau mit schwarzem
Schleier, die in einer Ecke des Raumes sitzt. „Die Lebensbedingungen haben
sich seit dem Fall Assads nicht geändert, das Leben ist so schwierig wie
zuvor.“
Seit dem Fall Assads und den Kämpfen zwischen SDF und der
Türkei-unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA) rund um den Damm
Tishreen am Euphrat hat sich die Lage noch verschlimmert. Die Türkei
betrachtet die SDF als Teil der verbotenen und als Terrororganisation
eingestuften PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans. Immer wieder gibt es
Luftangriffe. Inzwischen herrscht eine inoffizielle, fragile Ruhe zwischen
den beiden Milizen.
[4][An den Checkpoints] vor und nach der Stadt Maskanah stehen kurdische
Kräfte – Polizisten und Militärs. Teils sind es einfache, kleine Häuschen
am Straßenrand. An einem ist der Stau besonders lang, gut ein Dutzend
Fahrzeuge warten unter der schon im Frühling heiß herunter brennenden
Sonne. Kinder gehen an den Wagen vorbei, vor der Brust halten sie Kisten
mit Snacks, die sie an die Insassen für wenige Cents verkaufen.
Verschleierte Frauen sitzen zwischen Koffern auf den offenen Ladeflächen
der Pickups, Schafe liegen aneinandergedrückt auf Lastwägen, ihr Fell
aufgebauscht vom Wind. Die Minuten vergehen. Die langen Wartezeiten seien
Absicht, sagt ein Wartender – [5][damit die türkischen Drohnen ihn nicht
bombardierten]. Bestätigen lässt sich das nicht. Aber das Misstrauen ist
groß.
[6][Ein Abkommen, dass die SDF in die syrische Armee integrieren soll, gibt
es bereits.] Noch sind aber etliche Punkte unklar. In Maskanah hoffen viele
jetzt vor allem auf eines: Endlich in Freiheit und Frieden leben zu können.
27 Apr 2025
## LINKS
[1] /Syrien-nach-dem-Sturz-von-Assad/!6074900
[2] /Al-Jazeera-im-Nahostkonflikt/!5977556
[3] /Tuerkische-Angriffe-auf-Kurden-in-Syrien/!5929943
[4] /Abkommen-mit-Kurden-in-Syrien/!6078961
[5] /Journalist-ueber-tuerkische-Angriffe/!6058998
[6] /Kurdische-Gebiete-in-Syrien/!6071644
## AUTOREN
Serena Bilanceri
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