# taz.de -- Samischer Maler Anders Sunna: Von Groteske zu Groteske | |
> Künstler Anders Sunna löste in Schweden einen Streit um Identitätspolitik | |
> und Wirtschaftsinteressen aus, der sogar die Kunstfreiheit infrage | |
> stellt. | |
Bild: Streitbar und extrem kreativ: Anders Sunna | |
Dunkle Gestalten im Schattenriss vor dramatischen Eislandschaften. | |
Gesichtslose Entscheider am Konferenztisch. Ein Mann in Tarnhose lehnt an | |
einem Maschendrahtzaun. Urplötzlich wurde die großformatige Malerei von | |
Anders Sunna berühmt. | |
Es geschah für den Künstler selbst überraschend [1][2022 auf der Biennale | |
in Venedig], wo Sunna einer von drei sámischen Künstler:innen war, denen | |
im Nordischen Pavillon die Bühne überlassen wurde. Der Fokus auf | |
Vertreter:innen der einzigen indigenen Bevölkerungsgruppe Europas wurde | |
pointiert durch die hochsymbolische Geste, das Gebäude kurzerhand in „Sámi | |
Pavilion“ umzubenennen. | |
So wurde der Blick auf die Situation der Sámis gelenkt, die seit | |
Jahrtausenden im Norden Skandinaviens und der zu Russland gehörenden | |
Halbinsel Kola ansässig sind und meist von Rentierhaltung leben. | |
## Öffentlichkeitswirksame Kunst | |
Tatsächlich zeigte dies, wie öffentlichkeitswirksam sich zeitgenössische | |
Kunst in politische Prozesse einmischen kann. Seit dem Mittelalter mussten | |
sich die Sámi gegen unterschiedliche Formen der kulturellen und | |
geografischen Kolonisierung wehren. | |
Genau genommen müssen sie es immer noch. Sunnas sechsteiliger, mannshoher | |
Bilderzyklus „Illegal Spirits of Sápmi“, heute im Moderna Museet Stockholm, | |
stellt dar, dass Einschränkungen angestammter Lebensweisen der Sámi durch | |
(regional)politische Entscheidungen weiterhin gegeben sind. | |
Häufig steht hinter solchen Strategien globales Wirtschaftsinteresse. Im | |
Fall der Sámi Nordschwedens etwa weckt das großflächige [2][Weideland der | |
Rentiere Begehrlichkeiten auf dort lagernde Bodenschätze] wie Seltene | |
Erden. | |
## Gewohnheitsrecht Rentierhaltung | |
Sunna erzählt in seinem Werk mit ausgefeilten künstlerischen Mitteln von | |
dem über 50 Jahre währenden Streit um dieses uralte Gewohnheitsrecht der | |
Rentierhaltung. Seiner Familie war es in den 1970ern abgesprochen worden. | |
Zu diesen, durchaus auf andere Weltregionen übertragbaren | |
Interessenkonflikten zwischen indigenen Völkern und ihren Kolonisatoren hat | |
sich kürzlich ein heftiger Streit um Identitätspolitik, den Umgang von | |
Minderheiten untereinander und nicht zuletzt um die Kunstfreiheit | |
entzündet. | |
Sunnas Malerei ruft starke Reaktionen hervor. Ihre vitale Bildsprache | |
findet ihre Dynamik in der Tradition von Streetart, Graffiti und Stencil | |
Art. Das wirkt akut zeitgenössisch. Und geht doch weit über die politische | |
Protestgeste hinaus, indem Sunna seine Kunst verortet. | |
Dass Sunna die Arbeiten des Neoimpressionisten Peter Doig schätzt, ist | |
nicht zu übersehen; Schnee- und Waldlandschaften mit tiefer Horizontlinie | |
[3][erinnern an Caspar David Friedrich], und die Klarheit eines eisblauen, | |
subarktischen Sees verströmt die Frische des Schweizer Jugendstilmalers | |
Ferdinand Hodler. | |
## Durch Skelette verunreinigter See | |
Erst bei genauem Hinschauen fällt auf, dass etwa der See durch Massen von | |
Rentierskeletten verunreinigt ist oder dass die nordische Waldidylle in | |
Wirklichkeit keine ist, sondern eine durch den Abbau von Eisenerz zerstörte | |
Landschaft. Die Kultur- und Gesellschaftskritik des Künstlers ist so subtil | |
wie direkt. Sie verführt ihr Publikum durch Schönheit und bereitet ihm dann | |
im Moment des Erkennens einen umso größeren Schock. | |
„Malerei ist wie die Jagd“, hat Sunna einmal gesagt: Man locke die Beute an | |
und wenn sie nah genug sei, schlage man zu. Genauso ist es auch kein | |
Zufall, dass die Collagen der mit expressivem Pinselstrich übermalten | |
Porträtfotos seiner Familie unter die Haut gehen: Diese offenen, | |
freundlichen Gesichter derer, die im realen Leben über Jahrzehnte durch | |
Morddrohungen, durch üble Nachrede oder Brandstiftung geschädigt wurden. | |
Man sieht auch pastos gemalte Figuren von Lokalpolitikern in Kampfuniform | |
mit roten Armbinden, die Gesichter zu Fratzen verzerrt. Auch wenn diese | |
Malerei klar im sámischen Umfeld verortet ist, übt sie generell Kritik an | |
Machtverhältnissen. In solchen Momenten findet Sunnas Malerei den direkten | |
Anschluss an die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Polit- und | |
Halbweltgrostesken von George Grosz, Otto Dix und Max Beckmann. | |
## Problematischer Umgang | |
Dass diese Kunst exemplarisch steht für komplexe gesellschaftliche | |
Dynamiken in vielen Ländern, in denen der problematische Umgang mit | |
Minderheiten gerade verhandelt wird, zeigte Sunnas Einzelausstellung „Meän | |
Meän Sápmelaš“ („Unser Unser Sápmi“). Sie ist im subarktischen Luleå… | |
sehen, Hauptstadt der schwedischen Provinz Norrbotten. | |
Sie ist als Ort auch symbolisch aufgeladen, weil die Familie Sunna hier | |
fünf Jahrzehnte lang vor Gericht versuchte, ihre Konzession zur | |
Rentierhaltung einzuklagen. Wo jedoch Schwedens Interessen liegen, wird | |
bereits an Luleås Flughafen klar: Imageplakate des staatlichen | |
Bergbauunternehmens LKAB werben euphemistisch mit dem Slogan, im Dienst des | |
Fortschritts Grenzen zu verschieben, Berge und selbst Städte zu versetzen. | |
Letzteres ist eine Anspielung auf die Umsiedlung der Stadt Kiruna 2023, | |
deren Stabilität durch das System der unter ihr liegenden Minenschächte | |
gefährdet war. | |
All dies sind Aktivitäten, die die Gebiete der indigenen Bevölkerung | |
verkleinern, ihre Lebensweisen beschneiden. Das führt zu Konflikten. Und so | |
muss man sich selbst vor dem Besuch von Sunnas Ausstellung die Frage | |
stellen, auf welcher Seite man steht: Begrüßt man den Abbau Seltener Erden | |
in Europa, um für die Batterien von Handys und Elektroautos nicht auf China | |
angewiesen zu sein? Oder stellt man sich hinter den Schutz der | |
Minderheiten? | |
## Schwelender Konflikt | |
In Sunnas Schau in Luleå kam es nun zum Eklat. Denn seine provokative Kunst | |
spricht einen seit Langem schwelenden Konflikt innerhalb unterschiedlicher | |
Sámigruppen und den Tornedalingar an, einer finnischstämmigen Minderheit in | |
der Region. Es geht um gegenseitige Vorwürfe der Kooperation mit der | |
schwedischen Nationalregierung, um die Beschneidung der Rechte einzelner | |
Sámigruppen und sicher auch um Neid, ob der Aufmerksamkeit, die Sunna nun | |
als erfolgreicher Künstler für seine Sache erhält. | |
Sprecherin der Tornedalingar-Gruppe ist die medial vernetzte Eva Kvist. Sie | |
stellt Sunna auf einem seiner Bilder gut erkennbar dar. Arglos grinsend in | |
einer Reihe ihrer historischen Vorläufer, dazu der schwedische | |
Kolonisatoren-König Gustav I (1496–1560). Kvist sitzt auf dem Hals eines | |
liegenden Rentiers. Hintergrund dieser Darstellung ist ihr Engagement für | |
eine Gesetzesänderung, die es ihrer Minderheit erlauben soll, Rentiere zu | |
halten – nicht nomadisch wie die Sámis, sondern als Stallvieh. | |
Kvists Pressuregroup empört sich nun in den sozialen Medien über Sunnas | |
Bild, unterstellt dem Künstler Häme und Verleumdung, „Hass zu säen zwischen | |
den Minderheiten“, weil „er sich ins Rampenlicht stellen“ wolle. Die | |
Polizei solle einschreiten, es müsse rechtliche Konsequenzen geben, das | |
Bild abgehangen werden. Tatsächlich stand kurz darauf die Polizei in Sunnas | |
Ausstellung, das Gemälde aber blieb hängen. | |
## Aus dem Ruder gelaufener Streit | |
Der Eklat zeigt, wie Identitätspolitik aus dem Ruder laufen kann. Wenn sich | |
später zugewanderte ethnische Minderheiten gegen ältere, indigene in | |
Stellung bringen, um sich einen guten Platz im Aufmerksamkeits-, Macht- und | |
Geltungsgefüge des Nationalstaates zu sichern. In solch einem | |
Kompetenzgerangel steht schnell die Freiheit der Kunst auf dem Spiel. | |
Leider scheiterte der kluge Vorschlag der Ausstellungskuratorin, die | |
Streitenden an einen Tisch zu bringen, an den Bedenken der | |
Provinzregierung. Dabei sind von Identitätsvorgaben verunsicherte Behörden | |
das Letzte, was eine derart aufgeputschte Situation weiterbringt. | |
Anders Sunna indes macht weiter. Während die umstrittene Ausstellung gerade | |
zu Ende ging, kündigt er bereits eine neue Schau in Luleås Galerie Lindberg | |
an: „Coffee. Fight. Repeat“. Da ist er wieder, der Galgenhumor des | |
Künstlers. | |
27 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Auftakt-der-Kunstbiennale-in-Venedig/!5846732 | |
[2] /Filmemacher-Steyerl-und-Radynski/!6016739 | |
[3] /Geburtstag-von-Caspar-David-Friedrich/!6030808 | |
## AUTOREN | |
Gaby Hartel | |
## TAGS | |
Schweden | |
Streit | |
Zeitgenössische Malerei | |
Rentier | |
Seltene Erden | |
Biennale Venedig | |
Schweden | |
Biennale Venedig | |
Braunschweig | |
Biennale Venedig | |
Windkraft | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Tödlicher Angriff in Schweden: Drei junge Opfer und ein 16-jähriger Tatverdä… | |
Die Polizei in der schwedischen Stadt Uppsala untersucht den Angriff auf | |
Verbindungen ins Bandenmilieu – und spricht von einem „neuen Niveau“ der | |
Tat. | |
61. Biennale Venedig 2026: Kathleen Reinhardt kuratiert den Deutschen Pavillon | |
Dass die Wahl auf die Direktorin des Georg-Kolbe-Museums in Berlin fiel, | |
ist überraschend. Und nicht nur deshalb vielversprechend. | |
Samische Filmkultur: Viel mehr als nur Kulissen | |
Das samische Kino macht auf Festivals zunehmend von sich Reden. Das | |
International Film Festival Braunschweig greift den Trend in einer | |
Sonderreihe auf. | |
Architekturbiennale Venedig: Eine Reparatur am Gegebenen | |
Zukunft ist in Venedig etwas Hoffnungsvolles. „The Laboratory of the | |
Future“ hat Kuratorin Lesley Lokko die aktuelle Architekturbiennale | |
benannt. | |
Erneuerbare Energien in Skandinavien: Rentiere gegen Windkraft | |
Norwegen und Schweden haben Genehmigungen für Windkraftparks aufgehoben. | |
Die Anlagen behindern die Zucht der Rentiere. |