# taz.de -- Wenn der Oranienplatz aufersteht: Ein Camp erinnert an die Besetzun… | |
> Es geht nicht um Nostalgie, sondern um die Stärkung der | |
> No-Border-Bewegung. Die braucht es angesichts der rechten | |
> Migrationsdebatten mehr denn je. | |
Bild: Angepackt: Das Protestcamp am Oranienplatz in Kreuzberg wird aufgebaut | |
Berlin taz | Ein Sitzkreis aus Bierbänken und Camping-Stühlen, in der Mitte | |
eine mit Asche gefüllte Feuerschale. Es ist kurz vor 11 Uhr vormittags, | |
gleich sollte das morgendliche Plenum beginnen, aber das Camp auf dem | |
Oranienplatz wirkt noch verschlafen. Eine Teilnehmerin sucht nach Kaffee | |
und drückt auf die verschiedenen Pump-Thermoskannen, die auf Biertischen im | |
rot-weiß-gestreiften Hauptzelt stehen. Eine andere Aktivistin schält sich | |
aus einem der acht Schlafzelte, die auf der Grünfläche neben einer großen | |
Platane stehen, gelbe Schallschutzkopfhörer hängen ihr um den Hals. Mitten | |
in Kreuzberg wird es nachts nicht leise. | |
„Ich habe mich echt an den Lärm gewöhnt“, sagt Kali zur taz. Die junge | |
Aktivistin, die nur ihren Vornamen nennen will, schläft seit Beginn des | |
Camps am 1. März im Zelt. Sie hat das Camp mitorganisiert und angemeldet. | |
Anders als die taz zuerst berichtete, bekam die Gruppe durch eine | |
erfolgreiche Klage die Genehmigung zum Campen, nachdem die Berliner Polizei | |
zuerst eine Absage erteilt hatte. Einen Monat lang sollen auf dem | |
Oranienplatz Aktivist*innen mit und ohne Fluchterfahrung zusammenkommen | |
und der No-Border-Bewegung zu neuer Energie verhelfen. | |
Am Info-Zelt, wo den Passant*innen Flyer, Sticker und Kaffee angeboten | |
werden, hängt ein Banner: „Merz im Kanzleramt – NO, März auf dem O-Platz, | |
YES“. Spätestens seit dem migrationsfeindlichen Wahlkampf der Union ist | |
klar: Es braucht eine starke Bewegung für die Rechte Geflüchteter. Doch | |
schon die Ampel unter „Abschiebekanzler“ Scholz hat sich mit ihrer | |
Zustimmung und Umsetzung des Gemeinsamen europäischen Asylsystem und dem | |
Gesetz zur Verbesserung von Rückführungen der AfD-„Migrationskritik“ | |
angenähert. Wichtige Pläne aus dem Koalitionsvertrag wie Familien- und | |
Geschwisternachzug sowie die Abschaffung von Arbeitsverboten blieben | |
liegen. | |
Kali zählt die schrittweisen Verschärfungen im Asyl- und Migrationsrecht | |
auf. „Im September haben bei mir die Alarmglocken angefangen“, erzählt sie. | |
Da beschließt die Ampel als populistische Antwort auf den Messerangriff in | |
Solingen ein sogenanntes Sicherheitspaket und streicht Dublin-Fällen – also | |
Asylbewerber*innen, die in anderen europäischen Staaten bereits registriert | |
wurden – zwei Wochen nach Ankunft die Sozialleistungen. „Da gab es eine | |
Kundgebung am Lausitzer Platz und es waren ungefähr 200 Leute da.“ | |
## Von historischer Bedeutung | |
Für Kali steht fest, dass etwas passieren muss. Nicht einfach eine weitere | |
Kundgebung mit ein paar Dutzend Leuten, nicht nur ein Info-Stand. „Wir | |
brauchen mehr, wir brauchen eine Basis, um zusammenzukommen und um mehr | |
Menschen zu erreichen“, das habe Kali sich im Herbst gedacht. Zusammen mit | |
der langjährigen [1][No-Border-Aktivistin Napuli Langa] entsteht die Idee | |
für ein Protestcamp auf dem Oranienplatz. | |
Der Oranienplatz hat für die Berliner Geflüchtetenbewegung eine historische | |
Bedeutung. [2][Von 2012 bis 2014] besetzten über 100 Geflüchtete den Platz | |
und protestierten gegen die Schikane durch das deutsche Asylsystem. Napuli | |
Langa war dabei. [3][13 Jahre später] erinnert die Aktivistin an die | |
damaligen Forderungen. „Das Ende von Abschiebungen, die Abschaffung der | |
Residenzpflicht, die Abschaffung der Lager und die Möglichkeit zur | |
Integration“, fasst sie bei einer Pressekonferenz auf dem O-Platz zusammen. | |
Das jetzige Camp will an die Kämpfe damals anknüpfen. | |
Bino Byansi Byakuleka ist Teil dieser Geschichte. Vor 13 Jahren lebt | |
Byakuleka noch in einer Geflüchtetenunterkunft in Passau – und wartet. | |
Wartet auf eine Antwort auf seinen Asylantrag, auf eine Bewilligung für den | |
Integrationskurs, auf etwas zu tun. Um selbstständig Deutsch zu lernen und | |
mit Leuten in Kontakt zu kommen, schließt er sich einer Tandem-Gruppe mit | |
Studierenden in Passau an. | |
Im Austausch mit anderen stellt Byakuleka fest, dass er seine | |
Lebenssituation nicht länger hinnehmen will. „Ich hatte lange genug auf den | |
Deutschen Gott, auf Angela Merkel, unsere Erlöserin gewartet, aber sie war | |
nicht gekommen.“ Also nimmt er an Demonstrationen teil, geht auf die Straße | |
und verbündet sich mit anderen selbstorganisierten Geflüchteten. | |
## „Es war ein Hustle“ | |
Ein Hungerstreik von Geflüchteten in Düsseldorf, Proteste in Würzburg, ein | |
Protest-Camp in Passau – 2012 ploppen Widerstandsaktionen überall in | |
Deutschland auf. „Dann hatten Freunde die Idee, von Würzburg nach Berlin zu | |
laufen“, erinnert sich Byakuleka. Er nimmt an dem Protestmarsch teil, ab | |
12. Oktober 2012 baut er auf dem Oranienplatz sein Zelt auf. „Seitdem habe | |
ich Berlin nicht mehr verlassen“, sagt er und lacht. | |
Die Besetzung zieht sich über zwei Jahre. „Es war ein Hustle“, sagt | |
Byakuleka. Instandhaltung, Organisation, politische Aktionen, Verpflegung, | |
dazu die individuellen Kämpfe mit der Ausländerbehörde. „Ich habe dann auch | |
irgendwann einen Abschiebebescheid bekommen.“ | |
Die Behörden hätten die vulnerable Situation der Geflüchteten genutzt, um | |
sie gegeneinander auszuspielen. „Sie haben gesagt, wenn ihr zurück in die | |
Unterkunft geht und die Zelte abbaut, dann bekommt ihr eine Duldung. Manche | |
haben den Deal akzeptiert und so haben sie es geschafft, uns zu teilen.“ | |
Und so stimmen im April 2014 einige der Besetzer*innen zu, [4][das Camp | |
freiwillig zu räumen]. Es folgt eine Zwangsräumung der übrigen | |
Besetzer*innen. | |
Byakuleka sieht darin kein Scheitern. Die Besetzung habe ihn politisiert, | |
„ich war so energetisiert von diesem gemeinsamen Kampf, das war der Effekt | |
vom Oranienplatz“. Er bleibt in Berlin und gründet das „We Are Born | |
Free“-Radio und später das „One Love“-Radio und schafft so Plattformen f… | |
die Stimmen, Gedanken und Kulturen von geflüchteten Menschen wie ihm. Mit | |
der Bewegung fühlt er sich nach wie vor verbunden und schaut deshalb beim | |
Protestcamp vorbei. | |
Nicht nur auf der individuellen Ebene wirkt die Besetzung nach. Die | |
[5][No-Border-Bewegung] stößt eine politische Entwicklung hin zu mehr | |
Rechten für Geflüchtete an. 2014 wird die Residenzpflicht reformiert und | |
gilt nun nur noch für die ersten drei Monate nach Ankunft in Deutschland. | |
## „13 Jahre später reden wir über dieselben Sachen“ | |
Zuvor mussten Asylbewerber*innen und geduldete Geflüchtete zum Teil | |
jahrelang in den ihnen zugewiesenen kleinen Gebietsgrenzen bleiben, | |
meistens im Landkreis ihrer Unterkunft. Schon die Reise in einen anderen | |
Landkreis, geschweige denn Bundesland war verboten oder musste beantragt | |
werden. Auch das Gutscheinsystem ändert sich. Erhielten | |
Asylbewerber*innen und Geduldete ihre Sozialleistungen bis 2013 | |
meistens in Form von Sachleistungen und Gutscheinen, wechselten immer mehr | |
Bundesländer zu Bargeld. | |
Ergebnisse eines politischen Kampfes, die jetzt wieder zu Debatte stehen. | |
„13 Jahre später reden wir über dieselben Sachen“, sagt Jennifer Camau von | |
der Gruppe International Women’s Space, die sich während der | |
O-Platz-Besetzung gründete und seitdem für die Rechte geflüchtete’ Frauen | |
eintritt. | |
„Das Gutscheinsystem ist als Bezahlkarte zurückgekommen, Migration wird | |
wieder ausschließlich als Problem betrachtet“, sagt sie während der | |
Pressekonferenz. „Wir beobachten einen ernstzunehmenden Backlash.“ | |
Dementsprechend ähneln die Forderungen von heute den Forderungen von | |
damals: Das Camp protestiert für die Schließung aller Lager in Deutschland, | |
einen sofortigen Abschiebestopp, die Abschaffung der Bezahlkarte, die | |
Anerkennung der Klimakrise als Asylgrund und sogar weiterhin für die | |
Abschaffung der Residenzpflicht. | |
Langa, Camau, Byakuleka, sie alle sehen die Notwendigkeit, an die | |
O-Platz-Bewegung von damals anzuknüpfen. Das Camp soll auch dazu dienen, | |
eine jüngere Generation Geflüchteter zu mobilisieren und mit der Geschichte | |
der Bewegung vertraut zu machen. „Wir brauchen neue Leute, meine Wut von | |
damals ist nicht mehr dieselbe Wut, die ich heute habe“, sagt Camau. | |
## Von Aktionen wie dem Protestcamp abgeraten | |
Doch in der ersten März-Woche ist von der neuen Generation noch nicht viel | |
zu sehen. Kali vermutet, dass vielen Geflüchteten, die aktuell noch im | |
Asylverfahren stecken oder einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben, | |
schlicht die Zeit fehlt. „Leute sind so gestresst und erschöpft von den | |
ganzen bürokratischen Aufgaben“, sagt sie. Ein Ziel des Camps sei es | |
deshalb, neue Unterstützungsstrukturen zu etablieren, um Geflüchtete bei | |
diesen behördlichen und juristischen Fragen zu entlasten. | |
Dazu kommt die Angst, dass sich Aktivismus nachteilig auf die | |
Aufenthaltschancen auswirken könnte. Kali erzählt von dem Gerücht, dass | |
Asylbewerber*innen in den Unterkünften von Aktionen wie dem | |
Protestcamp abgeraten würde. Für Kali hängt die Angst, wegen politischen | |
Widerstandes abgelehnt oder abgeschoben zu werden, auch mit den | |
Repressionen gegen Palästina-solidarische Demonstrationen und | |
Meinungsäußerungen zusammen. „Wenn die CDU fordert, sogar die | |
Staatsbürgerschaft bei Straffälligkeit zu entziehen und bei Demonstrationen | |
super viele Menschen einfach so festgenommen werden, dann hat das eine ganz | |
klare Botschaft: Wer nicht gehorcht, darf nicht deutsch sein.“ | |
Um trotzdem Menschen aus den Geflüchtetenunterkünften auf den Oranienplatz | |
zu holen, fahren Teilnehmer*innen des Camps gezielt zu den Heimen, | |
verteilen Flyer und laden nach Kreuzberg ein. | |
Mittlerweile stehen einige Veranstaltungen auf dem Programm, | |
Podiumsdiskussionen, Live-Musik, Lesekreise. Langa, Kali und ihre | |
Mistreiter*innen haben Berliner Gruppen, die zur No-Border-Bewegung | |
gehören, zu Vernetzungstreffen eingeladen. Und das Camp wird zur | |
Anlaufstelle für alle möglichen Menschen, die in Kreuzberg unterwegs sind | |
und Redebedarf haben. „Viele wollen einfach von ihren Problemen erzählt, | |
man merkt direkt, wie Berlins Sparpolitik die Armut verschärft“, sagt Kali. | |
Auch das ein Ziel das Campes: Es will ein Ort sein, um Kämpfe zu verbinden. | |
Oder mit Langas Worten: „Hier fließen die Quellen zusammen, werden zu einem | |
starken Strom und tragen diese Energie zurück zu ihrem Ursprung.“ | |
12 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Nora Noll | |
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Andreas Geisel | |
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