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# taz.de -- Die Theatermacherin Nicoleta Esinencu: „Du verlierst über Nacht …
> Nicoleta Esinencu spielt im Rahmen des Festivals „Every Day!“ am Hebbel
> am Ufer. Sie tritt mit ihrem moldauischen Theaterkollektiv
> teatru-spălătorie auf.
Bild: Mit enschlossenem Blick in die Zukunft sehen: Die moldauische Regisseurin…
Berlin taz | „Der Kühlschrank war immer leer“, erinnert sich die Autorin
und Theatermacherin Nicoleta Esinencu, wenn sie über ihre Jugend in den
90er Jahren in der Republik Moldau reflektiert. „Das Einzige, was drin war,
waren Omega-3-Tabletten. Das kam als humanitäre Hilfe an Vaters
Arbeitsplatz an. Wir hatten Nahrungsergänzungsmittel, aber keine Nahrung!“
Als 1991 mit dem Auseinanderfallen der UdSSR auch Moldau, die kleinste
sowjetische Republik, unabhängig wird, wurden die staatlichen Betriebe ad
hoc geschlossen. Die einsetzende Inflation nahm der Bevölkerung die letzten
Sicherheiten. „Du verlierst über Nacht alles“, beschreibt Esinencu die
damalige Situation ihrer Eltern: „Du hast keine Arbeit, kein Geld, kein
Essen.“
Esinencu, die sich in ihrer Arbeit immer wieder neu mit [1][dem
gegenwärtigen global-kapitalistischen System] und seinen konkreten
Auswirkungen auf den Menschen auseinandersetzt, ist dreizehn, als in Moldau
der Systemwechsel vollzogen wird. Sie wächst in einer Gesellschaft auf, in
der alle Erwachsenen auf sich selbst zurück geworfen sind, jegliche
staatliche Unterstützung fehlt und es darum geht, unter dem Druck der neuen
Bedingungen zu überleben.
„Alle Eltern, vor allem die Mütter, sind auf den Markt gegangen, um
irgendetwas zu verkaufen, damit Essen für die Kinder da war“, erinnert sich
Esinencu. Viele Eltern werden so gezwungen, als Arbeitsmigranten im Ausland
für ihre Kinder zu sorgen. Die Kinder wachsen elternlos in Moldau auf.
## Aufwachsen ohne Eltern aufgrund von Arbeitsmigration
2019 hat sich die Theatermacherin in der dokumentarischen Performance „Die
Abschaffung der Familie“ genau damit auseinandergesetzt. „Es war nicht mal
Zeit da, Angst zu haben, sich dieser Angst bewusst zu werden, geschweige
denn darüber zu reflektieren. Es ging ums pure Überleben in Zeiten
ständiger Veränderung.“ Vor diesem Hintergrund findet eine extreme
Polarisierung der Gesellschaft statt. Der Nationalismus breitet sich aus
wie ein Geschwür.
„Ich bin ein Mensch, der Angst hat, und darum kämpfe ich. Es ist ein Kampf,
den ich für meine Mutter führe. Eigentlich für alle Mütter.“ Die dunkle
Stimme der 47-jährigen Esinencu bekommt ein warmes Timbre, als sie von
ihrer Mutter erzählt, die Bücher schreiben wollte, aber nicht dazu kam,
weil sie in der Familie die ganze Care-Arbeit leisten musste, während ihr
Mann sich als Schriftsteller einen Namen machte.
Dezidiert prangert die Theatermacherin in ihrer Arbeit das Patriarchat an.
Sie macht sich für Feminismus stark. Patriarchale Strukturen hat sie nicht
nur in der eigenen Familie erlebt, sondern auch als Dramaturgin am
staatlichen Eugene-Ionesco-Theater in Chișinău Anfang der 2000er Jahre.
„Alles hat damit angefangen, dass ich nicht einverstanden war, wie es im
Theater um mich herum aussah.“ Nicoleta Esinencu ist nicht einverstanden,
dass es im Theater Hierarchien gibt, dass an der Spitze des Theaters ein
Mann steht und dass die Regie männlich ist. Sie akzeptiert unangemesses
Verhalten der Regisseure bei den Proben nicht. Auch Inszenierungen, die oft
Sexismus und Rassismus propagieren, lehnt sie ab.
Mit 32 Jahren gründet sie mit Gleichgesinnten in der moldauischen
Hauptstadt ihre eigene Theatertruppe teatru-spălătorie: „Wir haben gemacht,
was uns gefällt und wir haben es anders gemacht“, erzählt sie. „Es war vor
allem ein neuer Blick auf das, was uns umgibt.“ Sieben kurze Jahre, von
2010 bis 2017, hat das Kollektiv in Chișinău eine feste Bühne. „Es gibt
eine Generation, die mit uns aufgewachsen ist“, stellt Esinencu nüchtern
fest, aber schon die neue Generation kenne teatru-spălătorie nicht mehr.
Die Truppe mietet in Chișinău Probenräume an. Vorstellungen kommen nicht
zustande. „Man will uns nicht. Man macht alles, damit wir nicht da sind.“
Esinencu wird sarkastisch: „Das ist schon ein interessanter Ansatz einer
sogenannten demokratischen Regierung: wer nicht für uns ist, ist gegen
uns.“ „Clear History“, eine frühe Inszenierung, die in Moldau und auch im
HAU gezeigt worden ist, holt ein Tabuthema an die Oberfläche: den Holocaust
in Bessarabien. Das Territorium der heutigen Republik Moldau fiel im Sommer
1940 unter sowjetische Besatzung und gehörte von Sommer 1941 bis Sommer
1944 zu Rumänien, dessen totalitärer Herrscher Ion Antonescu mit
NS-Deutschland kollaborierte. Mehr als 250.000 moldauische und ukrainische
Juden und Jüdinnen wurden auf seinen Befehl hin ermordet. „Wir haben zu
Hause nie über den Holocaust gesprochen,“, erinnert sich Esinencu. „Meine
Eltern haben überhaupt nicht verstanden, warum ich das an die
Öffentlichkeit zerre. In ihren Augen ist das: den Müll wieder
hervorkehren.“
## Der Holocaust wird aus der öffentlichen Debatte verdrängt
Der Holocaust, der auch vor der eigenen Haustür stattfand, wird „versteckt.
Er wird wegradiert. Man möchte ihn loswerden und tut so, als hätte es ihn
niemals gegeben.“ Momentan möchte man auch am liebsten „die Löschtaste“
drücken, wenn es um die sowjetische Periode geht, sagt Esinencu. „Wer an
die Macht kommt, schreibt die Geschichtsbücher um. So gibt es bei uns viele
offizielle Geschichtsschreibungen. Es gibt die, die nach Westen, und es
gibt die, die nach Osten gerichtet sind,“ konstatiert die Theatermacherin
trocken.
[2][Inzwischen ist teatru-spălătorie lose ans Berliner HAU angedockt]. Seit
2012 sind am Haus acht Inszenierungen gezeigt worden. Die neunte hat am 21.
März im Rahmen des [3][Festivals „Every Day! Feministische Kämpfe im
postsozialistischen Europa“ (21.–29. März) am HAU Premiere.] Schmutzige
Wäsche wird in „Dirty Laundry. The TrashOpera“ ganz konkret auf einem
Kreuzfahrtschiff gewaschen. Esinencu lässt dort die extremen Pole der
globalen Welt – enormer Reichtum und menschenunwürdige Ausbeutung –
aufeinanderkrachen und sucht dann proaktiv nach gerechteren Varianten eines
globalen Miteinanders.
Am staatlichen Theater in Chișinău wurde im März 2024 eine Inszenierung,
die das Thema Korruption verhandeln wollte, direkt von der Präsidentin Maia
Sandu verhindert. Es gab keinerlei öffentliche Aufarbeitung des
Zensurskandals. Im Gegenteil: Es wurde „von ganz oben“ mit der aktiven
Beteiligung des Kulturministers eine Kampagne lanciert, um Regisseur David
Schwartz öffentlich zu diskreditieren. „Das Allertraurigste ist vielleicht
wirklich, dass wir zu Hause nicht arbeiten können.“
Nicolea Esinencu sucht nach Worten und sagt zögernd: „Also ich persönlich,
also eigentlich wir alle vom teatru-spălătorie fühlen uns zu Hause in
Moldau wie Fremde. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass wir eines
Tages wieder in Moldau auftreten können.“ Noch werden alle, die nicht zur
Mehrheit gehören, gehasst. Ihre Stimme wird jetzt fest und kämpferisch:
„Aber keine Regierung wird mich davon abhalten, dass ich eine
hierarchiefreie Gesellschaft anstrebe, die offen ist für Migranten und für
queere Menschen. Keine Regierung wird es schaffen, mich zum Schweigen zu
bringen.“
20 Mar 2025
## LINKS
[1] /Oligarch-vor-Gericht/!6052148
[2] /Dramatikerin-ueber-Moldau-und-Europa/!5042664
[3] https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/festivals-projekte/every-day
## AUTOREN
Katja Kollmann
## TAGS
Republik Moldau
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Hebbel am Ufer
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Maia Sandu
Einreiseverbot
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