# taz.de -- Italienisches Musikfestival San Remo: Trumps Hunger auf Ligurien | |
> Übers Wochenende fand in San Remo das sagenumwobene Musikfestival San | |
> Remo statt. Wichtigste Erkenntnis: Die Donnerballade lebt. | |
Bild: Will sich nicht wirklich den ESC antun: San-Remo-Gewinner Olly mit Goran … | |
Angefeuert von mehreren Dutzend Schlagzeugern entert der Sänger Jovanotti | |
im goldenen Anzug den Saal des Teatro Ariston. Eine blondierte ältere Dame | |
aus dem Publikum wirft sich ihm so ungebremst an den Hals, dass er beinahe | |
hinschlägt. | |
[1][Papst Franziskus meldet sich mit einem Grußwort und preist die | |
friedensstiftende Kraft der Musik]. Ein signore mit dem Aussehen eines | |
römischen Antiquariatsleiters singt im schwarz-silbernen Floral-Anzug über | |
seine schwerkranke Mutter. | |
Gaststar Roberto Benigni mahnt, Donald Trump hege Interesse an Ligurien. | |
Zwischendurch ballert immer wieder die diesjährige Erkennungsmusik: „Tutta | |
l’Italia, tutta l’Italia, tutta l’Italia!“ Um etwaigen Hungergefühlen | |
Vorschub zu leisten, schiebt Co-Moderatorin Antonella Clerici zu | |
vorgerückter Stunde einen Servierwagen mit mehreren Pasta-Tellern auf die | |
Bühne. Es ist mal wieder so weit: Italien ist im Sanremo-Fieber. | |
Zweimal im Jahr befindet sich Italien im Ausnahmezustand: zum einen zu | |
Ferragosto, der Sommerwende, wenn sich in den glutheißen Städten der | |
Asphalt zu wellen droht und alles ans Meer drängt. Und natürlich an den | |
fünf langen Abenden des Festival di Sanremo, wenn die quietschige | |
Sangessause über alle soziokulturellen und politischen Trennlinien hinweg | |
zum nationalen Lagerfeuer wird. | |
## Im Land der Nachtigallen | |
Selbst jene, die nicht einschalten, bekommen alles mit; das Land kennt an | |
diesen fünf Tagen kaum ein anderes Thema. Hier, beim ältesten | |
Gesangswettbewerb Europas, wird Italien alljährlich der Puls gemessen. | |
Natürlich, es wird gesungen: Das Land der Nachtigallen dürstet nach neuen | |
Liedern, und bei der großen Kirmes an der Blumenriviera feuert die | |
italienische Musikindustrie aus allen Zylindern. | |
[2][Doch auf der Apenninhalbinsel ist ein Musikwettbewerb natürlich so viel | |
mehr]; in der Überbetonung des vermeintlich Nebensächlichen kommt die | |
Nation zu sich. Am Ende der 75. Ausgabe stehen zwei Einsichten: Die gute | |
alte italienische Donnerballade lebt. Gleichwohl wärmte das Lagerfeuer | |
unter der neuen Leitung spürbar weniger als in den Vorjahren. | |
Auffällig: Die üblichen Skandälchen blieben diesmal aus. Wo in den | |
vergangenen Jahren noch US-Gaststar John Travolta in eine demütigende | |
Ententanz-Darbietung verwickelt wurde, der Sänger Blanco vor Wut über | |
technische Unzulänglichkeiten das Bühnenbild verwüstete und das Duo | |
Bugo/Morgan wegen einer auf offener Bühne ausgetragenen Fehde | |
disqualifiziert wurde, hielt diesmal der neue Festivalleiter und Moderator | |
Carlo Conti die Zügel fest in der Hand. | |
## Freizügiger Umgang mit Bräunungscreme | |
Conti, ein für seinen freizügigen Umgang mit Bräunungscreme bekannter | |
TV-Veteran mit Autoverkäufer-Charme, folgt auf den deutlich | |
charismatischeren Amedeo Sebastiani alias Amadeus. Dieser hatte das | |
Festival in den vergangenen Jahren jünger, progressiver und – wie die | |
italienische Rechte befand – allzu woke gemacht: Lange Gast-Monologe über | |
die Mafia, Femizide oder die italienische Verfassung sorgten nicht bei | |
allen Stiefelbewohnern für Begeisterung. | |
Auch die propalästinensischen Äußerungen einiger Teilnehmer stießen vielen | |
auf wie weichgekochte Pasta. Für derlei Sperenzchen hatte der | |
regierungsgenehme Conti keine Zeit: Vom ersten Abend an preschte er durch | |
das Programm, als hätte er noch wichtige Anschlusstermine einzuhalten. | |
War es das von vielen prognostizierte Festival von TeleMeloni, wie der | |
öffentlich-rechtliche Sender RAI nach starker Einflussnahme der Regierung | |
von etlichen Beobachtern genannt wird? In gewisser Hinsicht ja. Die nahezu | |
vollständige Abwesenheit anarchischer Momente sorgte trotz des erhöhten | |
Tempos nicht selten für bleierne Schwere. Viele sahen ein Festival der | |
Resignation, der Normalität, der Bravheit. | |
## Rosenkranz statt Tiffany-HalsketteMus | |
Für den größten Rabatz sorgte passenderweise der Rapper Tony Effe, der | |
auszusteigen drohte, nachdem man ihm das Tragen einer 70.000 Euro teuren | |
Tiffany-Halskette untersagt hatte; er trat stattdessen mit einem Rosenkranz | |
auf. Dazu kamen zu viele ähnlich klingende Lieder von den immer gleichen | |
Komponisten. Politik fand nur abseits der großen Bühne statt: Ob sie sich | |
vorstellen könne, Giorgia Meloni zu wählen, wurde die Sängerin Elodie | |
während der Pressekonferenz gefragt. Noch nicht einmal, wenn man ihr den | |
Arm abtrennen würde, gab die Römerin zur Antwort. | |
Als herausragender Song wird „Volevo essere un duro“ in Erinnerung bleiben, | |
ein Lied des toskanischen Cantautore Lucio Corsi, der in Glamrock-Gewandung | |
und mit weiß geschminktem Gesicht an unschuldigere Zeiten gemahnte. Als | |
Favoritin galt früh die stimmgewaltige Sängerin Giorgia. | |
Den Sieg trug jedoch der Genueser Newcomer Olly davon, er dürfte Italien | |
somit beim Eurovision Song Contest vertreten; sein Beitrag „Balorda | |
nostalgia“ (Blöde Nostalgie) könnte den Geist dieses Jahrgangs nicht besser | |
beschreiben: Er wolle zurückkehren in eine Zeit, als es noch reichte, zu | |
lachen, zu weinen und zu lieben. Wie schön die Zeiten, als man gemeinsam | |
mit der Fernbedienung in der Hand auf dem Sofa einschlief. Man wird den | |
Song noch an Ferragosto aus jeder Strandbar dröhnen hören. | |
17 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Eric Pfeil | |
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