# taz.de -- Abgeordnetenrechte vorm Staatsgericht: Zur Sache, Schätzchen | |
> Hat Bremens Bürgerschaftspräsidentin Antje Grotheer dem Abgeordneten Jan | |
> Timke zu Unrecht das Wort entzogen? Darüber verhandelte der | |
> Staatsgerichtshof. | |
Bild: Hatte er vor zwei Jahren noch „zur Sache“ gesprochen oder nicht? Jan … | |
Bremen taz | Durfte die Präsidentin der Bremischen Bürgerschaft, Antje | |
Grotheer, dem [1][Bündnis-Deutschland-Abgeordneten Jan Timke] das Rederecht | |
entziehen, als er bei der Wahl des rot-grün-roten Senats im Juli 2023 die | |
Verfassungstreue der Linkspartei anzweifelte? Mit dieser Frage beschäftigte | |
sich am Montag der Staatsgerichtshof Bremen auf Antrag von Jan Timke, der | |
seit 1993 vier verschiedenen rechtspopulistischen Parteien angehört hat und | |
seit 2008 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft ist. | |
Eine Entscheidung wird das Landesverfassungsgericht erst im März fällen, | |
aber am ersten Verhandlungstag wurde deutlich, dass sich die | |
Landtagspräsidentin auf recht dünnem Eis bewegte, als sie den Abgeordneten | |
zweimal aufforderte, zur Sache zu reden, und ihm, als er bei seinem | |
vorbereiteten Redetext blieb, beim dritten Mal das Wort entzog. | |
Zwei Minuten hatte Timke gesprochen, als Grotheer ihn das erste Mal | |
unterbrach. „Noch immer werden als linksextremistisch eingestufte | |
Strömungen, Strukturen und Zusammenschlüsse innerhalb der Partei Die Linke | |
von den Verfassungsschutzbehörden verschiedener Bundesländer beobachtet, so | |
in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und auch im benachbarten | |
Niedersachsen“, hatte Timke gesagt, woraufhin Grotheer die Glocke läutete | |
und ihn bat, „zur Sache zu sprechen“. | |
## Um die Sache | |
Daraufhin fuhr er fort, die Linkspartei in die Nähe des Linksextremismus zu | |
rücken. Drei Minuten später unterbrach ihn Grotheer erneut. „Es geht um die | |
Wahl des Senats, es geht um Bremer Personen, es geht um Bremer Wahlen. Es | |
geht nicht um die Frage, wen Sie aus welchen Erfahrungen oder welchen | |
Erkenntnissen im Bund sonst wie beurteilen.“ Weil er sich auch davon nicht | |
beirren ließ, entzog sie ihm schließlich das Wort. | |
Timke ging juristisch dagegen vor und stellte, vertreten durch seinen | |
Anwalt, vor dem Staatsgerichtshof den Antrag, die Unzulässigkeit von | |
Grotheers Handeln festzustellen. Zuvor hatte diese es im August 2023 | |
abgelehnt, ihn in der nächsten Bürgerschaftssitzung seinen Vortrag | |
fortsetzen zu lassen. | |
Es sei ihm um die Sache gegangen, argumentierte Timke laut dem am Montag | |
vom Gericht vorgetragenen Sachbericht. Um die Verfassungstreue der beiden | |
zur Wahl stehenden Senatsmitglieder, die der Linkspartei angehören, in | |
Frage stellen zu können, habe er „einen Bogen gespannt“. Die | |
Landtagspräsidentin habe ihn daran gehindert, „den Bogen auf Vollspannung“ | |
zu bringen und dann „abzuschießen“. Damit, so sieht es sein Anwalt, seien | |
seine Abgeordnetenrechte verletzt worden. | |
## Im Ton vergriffen | |
Der Staatsgerichtshof unter dem Vorsitz von Peter Sperlich beschäftigte | |
sich in der Sitzung lange mit dem Unterschied zwischen Sach- und | |
Ordnungsrufen. Ordnungsrufe ergehen in deutschen Parlamenten regelmäßig und | |
sind ebenso regelmäßig Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen. | |
Häufig geht es dabei um AfD-Abgeordnete, die andere Menschen beleidigen und | |
diffamieren. | |
Erst am Freitag hatte beispielsweise das Hamburger Landesverfassungsgericht | |
[2][einen Ordnungsruf gegen den AfD-Abgeordneten Krzysztof Walczak für | |
rechtmäßig erklärt]. Dieser hatte im Mai 2023 in einer Sitzung der | |
Hamburger Bürgerschaft den CDU-Landeschef als „Ober-Pinocchio“ bezeichnet | |
und später behauptet, die CDU sei „mit ihrer Migrationspolitik für den | |
Einlass Hunderttausender Antisemiten nach Deutschland verantwortlich“. | |
Sachrufe, also die Erinnerung zur Sache zu sprechen, seien hingegen | |
ausgesprochen selten, wie der Vorsitzende Richter ausführte. Im Bundestag | |
seien diese in den letzten 20 Jahren nicht dokumentiert worden, in Bremen | |
in mindestens den letzten zwei Legislaturperioden nicht. Dabei wog das aus | |
sieben Personen bestehende Gericht ab, ob nun ein Sach- oder ein | |
Ordnungsruf das mildere Mittel wäre. | |
## Thema verfehlt | |
Richter Andreas Fischer-Lescano gab zu bedenken, dass ein Ordnungsruf eine | |
Rede vollkommen verbiete, während ein Sachruf sie nur zu einem bestimmten | |
Zeitpunkt einschränke. Der Vorsitzende Sperlich hingegen fragte, ob es | |
nicht viel schlimmer sei, jemandem zu erklären, er habe sich nicht [3][im | |
Ton vergriffen], sondern das Thema verfehlt. | |
Fraglich schien dem Gericht auch zu sein, inwiefern es befugt sei zu | |
beurteilen, wann jemand noch zur Sache spreche und wann nicht. Deshalb gab | |
es immer wieder den Ball sowohl an die Anwälte als auch an Timke und | |
Grotheer zurück: „Wann ist aus Ihrer Sicht eine rote Linie überschritten?“ | |
Klare Antworten hatten auch diese nicht. | |
Jan Timke sagte, wenn er etwa vom Angeln gesprochen hätte, hätte das wohl | |
nichts mehr mit der Sache zu tun gehabt. Allerdings werden die Reden zur | |
Wahl des Senats traditionell zu allem Möglichen genutzt, wie eine im | |
Gericht gezeigte Videoaufnahme der Rede der grünen Fraktionsvorsitzenden | |
zeigte, die sieben Minuten über vergangene Erfolge und zukünftige | |
Herausforderungen sprach, bevor sie zum ersten Mal auf den neuen Senat zu | |
sprechen kam. | |
## Umgang in Parlamenten hat sich verändert | |
Nur: Wäre ein Verfassungsgericht nicht befugt, die Sachdienlichkeit eines | |
Redebeitrags zu bewerten, könne das in der Konsequenz dazu führen, dass | |
diese ohne Kontrollmöglichkeit zu „Quasselbuden“ verkämen, sagte Richter | |
Fischer-Lescarno, in denen „dadaistische Diskussionen“ dominierten. | |
Nach zwei Stunden Verhandlung äußerte sich die Landtagspräsidentin erstmals | |
selbst. Ihr Beitrag ließ durchblicken, warum sie möglicherweise in ihrer | |
zweiten Sitzung als Landtagspräsidentin so scharf durchgegriffen hatte. | |
„Ich bin seit 2011 Mitglied der Bürgerschaft“, sagte die Juristin, „seit… | |
hat sich die Dynamik und der Umgang miteinander im Parlament sehr | |
verändert“. In den vergangenen Jahren würden Sachen gesagt, die sie sich | |
vor zehn Jahren noch nicht habe vorstellen können. „Es wird versucht, immer | |
etwas mehr zu sagen, als zulässig ist.“ | |
10 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Umgang-mit-rechten-Parteien/!5972666 | |
[2] /Hamburger-AfDler-verliert-vor-Gericht/!6067956 | |
[3] /Von-den-USA-bis-Deutschland/!6043892 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
## TAGS | |
Parlament | |
Bremische Bürgerschaft | |
Abgeordnete | |
Hamburg | |
Hamburg | |
Bremerhaven | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Hamburger AfDler verliert vor Gericht: Rederecht gilt nicht unbegrenzt | |
Die Ordnungsrufe gegen rassistische Äußerungen eines Hamburger | |
AfD-Abgeordneten waren rechtmäßig. So entschied am Freitag das | |
Landesverfassungsgericht. | |
Hamburger AfDler zieht vor Gericht: An den Grenzen des Rederechts | |
Ein Hamburger AfD-Abgeordneter klagt vor dem Landesverfassungsgericht wegen | |
zweier Ordnungsrufe. Die hatte er nach rassistischen Äußerungen erhalten. | |
Umgang mit rechten Parteien: Ein Linker raus, ein Rechter rein | |
In Bremerhaven soll ein Abgeordneter des rechten „Bündnis Deutschland“ ins | |
Wahlprüfungsgericht gewählt werden. Ein Linker soll dafür rausfliegen. |