# taz.de -- Klimawandel: Die Diskrepanz zwischen Wissen und Wirken | |
> Sich für den Schutz der Erde zu positionieren, die Suche nach Lösungen | |
> aber anderen zuschieben, ist unredlich. Wir alle tragen Verantwortung. | |
Das Szenario ist ein Mittelstandsgeburtstag. Geburtstagskind und | |
Eingeladene sind um die 50, Akademiker und Akademikerinnen. Die Mehrheit | |
wohnt in den eigenen vier Wänden. Menschen mit einem Einkommen, das sie | |
nicht sorgenvoll auf die nächste Gasrechnung und in die Zukunft schauen | |
lassen muss. Man schenkt sich Bücher und guten Wein. Uns geht es gut. Die | |
Gespräche drehen sich um die Kinder, um den Beruf und natürlich um den | |
Urlaub. Die Planungen für das neue Jahr sind in vollem Gange. | |
Es ist wie ein Wettbewerb, bei dem jeder den anderen in der Entfernung des | |
Urlaubsziels übertreffen möchte. Es wird geflogen, als gäbe es keinen | |
Klimawandel. Das Fernweh ist groß. Und doch war es an vielen Zielorten im | |
letzten Jahr so heiß, dass es wirklich keinen Spaß gemacht hat, am Stand zu | |
liegen oder Ausflüge zu unternehmen. Wie ärgerlich. Zum Glück war das Hotel | |
klimatisiert. Spätestens hier wird es schwierig. | |
Wenn einem die 30 Grad in Deutschland schon zu schaffen machen, die eine | |
direkte Folge unseres energieintensiven Lebenswandels sind, warum dann an | |
einen Ort mit 40 Grad fliegen und damit noch einen aktiven Beitrag zu dem | |
akuten Umweltproblem leisten? Und darüber jammern? Dieses Maß an | |
ausgeblendeter Wirklichkeit können wir uns nicht mehr leisten. Wenn man | |
selbst Teil des Problems ist, fehlt häufig die Distanz für einen klaren | |
Blick auf die Situation. | |
Und Urlaub scheint als Thema außerordentlich ungeeignet zu sein, um für das | |
Anliegen Umweltschutz und Verhaltensänderung Unterstützung zu finden. Der | |
Alltag ist schon ein Spießrutenlauf durch unzählige Verpflichtungen, und | |
gerade deshalb besteht die Erwartung, dass in den schönsten beiden Wochen | |
des Jahres der Alltag möglichst weit hinter sich gelassen wird. Mehr denn | |
je gehört es zum Selbstverständnis, ist Statussymbol und Ausdruck für | |
Weltoffenheit, Bildung und Wohlstand, [1][möglichst weit herumgekommen] zu | |
sein. | |
## Einfach mal die Tiefkühltruhe abschalten | |
Klimaschutz im Alltag tut da vielleicht etwas weniger weh. Als Russland den | |
Gasexport einstellte, forderte der Chef der Bundesnetzagentur private | |
Haushalte dazu auf, den Energieverbrauch um 20 Prozent zu senken. Möglich | |
ist das ohne größere Einschränkungen, allein wenn man den größten | |
Stromfresser im Haus, die Tiefkühltruhe, abstellt. Frische Produkte sind | |
grundsätzlich besser, und Tiefkühlprodukte haben eine schlechte Ökobilanz. | |
Und doch erscheint für die Gäste auf dem Mittelstandsgeburtstag die | |
Vorstellung, auf ein Tiefkühlgerät zu verzichten, als absurd. Recht schnell | |
kommt dann auch das Totschlagargument zum Schutz vor solchen Ideen: Die | |
wirklichen Hebel lägen doch ganz woanders. Die Politik, China, Trump. | |
Welche Rolle spielt meine Kühltruhe global? Wir leben in einer moralisch | |
aufgeladenen Bekenntnisgesellschaft, in der zwar viel über Werte gesprochen | |
wird, aber die Verantwortung dann doch immer erst bei anderen gesehen wird. | |
Komplett absurd wird es, wenn sich Klimaschützer dann auch noch | |
rechtfertigen müssen. Es sind gebildete Menschen, Lehrer, | |
Produktentwicklerinnen, Techniker, Menschen, die Verantwortung tragen und | |
die etwas bewegen könnten, um die Welt zum Besseren zu verändern. Doch bei | |
der Nachhaltigkeit erfolgt der komplette Selbstboykott und trotzige | |
Verweigerung, eine selbst erklärte Hilflosigkeit und Ohnmacht, eine | |
kollektive Kapitulation aus Mangel an Selbstvertrauen in die eigenen | |
Möglichkeiten und dem Verlust des Glaubens, dass man selbst etwas bewirken | |
kann. | |
Das ist ein sehr einfacher Weg, sich aus der Verantwortung zu stehlen und | |
die Widersprüche unserer Lebensführung aufzulösen. Aber es bleibt die | |
Frage: Wie ernst können wir uns selbst dabei noch nehmen? Man muss nicht | |
Psychologie studiert haben, um zu wissen, dass Verdrängung die Probleme nur | |
verschärft, sowohl die ökologischen als auch die für das eigene | |
Wohlergehen. Warum nehmen gefühlt die Anspannung und das | |
Aggressionspotenzial in unserer Gesellschaft kontinuierlich zu? | |
## Hilfreich sind Netzwerke | |
Auch weil viele Menschen sich der Diskrepanz zwischen ihrem Wissen und | |
ihrem Handeln, ihrer Verlogenheit und Inkonsequenz, ihrer fehlenden Kraft | |
zur Gestaltung eines Lebens in Übereinstimmung mit ihren Werten sehr wohl | |
bewusst sind. Die Frage nach einem anderen Leben ist für sie schmerzhaft, | |
weil sie wissen, wie berechtigt sie ist. Ein guter Grund also, an der | |
aktuellen Situation etwas zu verändern: unser Wohlbefinden. | |
Die Rückeroberung des Stolzes auf sich selbst und der Freiheit, Nein sagen | |
zu können zu einzelnen Auswüchsen des eigenen verschwenderischen und | |
zerstörerischen Lebensstils. Die bewusste Entscheidung gegen eine | |
Flugreise, den Kauf der zehnten Jeans [2][oder ein Steak] hat keinen | |
messbaren Einfluss auf die globalen Klimaveränderungen, aber es ist ein Akt | |
gelebter Verantwortung und persönlicher Integrität. | |
Was aber häufig übersehen wird: Solche individuellen Verhaltensänderungen | |
sind auch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive von unschätzbarer | |
Bedeutung, denn jeder Veränderungsprozess beginnt immer bei einzelnen | |
Menschen. Nun gibt es Rahmenbedingungen, die Selbstentwicklung und | |
individuelle Veränderungsprozesse erschweren oder begünstigen. Nachhaltig | |
zu leben in einem nicht nachhaltigen Umfeld ist fast unmöglich. | |
Was allerdings sehr hilft, ist, Mitstreiter an seiner Seite zu wissen und | |
als Teil einer gleichgesinnten Gruppe zu agieren. Wir sind soziale Wesen. | |
Wir wollen dazugehören und suchen Halt und Bestätigung in Gruppen. Deshalb | |
vernetzten wir uns mit Familienmitgliedern, mit Arbeitskollegen, | |
Kommilitonen oder Sportfreunden. Wir sind fast alle Teil unzähliger selbst | |
organisierter kleiner Netzwerke. Wir teilen digital Joggingstrecken und | |
Laufzeiten und messen uns mit fremden Menschen. | |
## Oft reicht schon ein kleiner Impuls | |
Diese spielerisch-sozialen Instrumente könnten viel stärker für ökologisch | |
relevante Aktivitäten genutzt werden, etwa um im Freundeskreis oder in | |
Nachbarschaftszirkeln gemeinsame Projekte zu entwickeln oder Wettbewerbe zu | |
organisieren, wer was am schnellsten erreicht. Es könnte in diesen | |
Netzwerken ein Austausch stattfinden, es könnten kleine Inseln geschaffen | |
werden, wo Menschen sich gegenseitig darin bestärken, neue Verhaltensweise | |
zu erproben, und das Gefühl entwickeln, gemeinsam etwas zu bewirken. | |
Die gute Nachricht ist: Es reicht bereits eine kleine Gruppe | |
Gleichgesinnter als Startpunkt. Und diese zu bilden, ist überraschend | |
leicht. Es gibt interessante Studien darüber, warum während des Zweiten | |
Weltkriegs Menschen ihr Leben riskiert haben, um verfolgte Juden bei sich | |
zu verstecken. Wie der Historiker Rutger Bregmann in seinem Buch | |
„[3][Moralische Ambition]“ schreibt, war ausschlaggebend, dass sie gefragt | |
wurden. | |
Bei vielen Menschen reicht offensichtlich ein kleiner Impuls, die Bitte um | |
Hilfe aus, die Schwelle der Untätigkeit zu überschreiten. Das eröffnet | |
unbegrenztes Mobilisierungspotenzial. Es braucht nur jemanden, der den | |
ersten Schritt macht, jemanden fragt, der dann auch wieder jemanden fragt. | |
Und so weiter. Wie bei einem Kettenbrief. Wenn uns etwas sehr wichtig ist, | |
warum bitten wir dann andere nicht viel häufiger um Unterstützung? | |
Die Entwicklung einzelner kleiner Netzwerke ist die erste Stufe, auf die | |
die Vernetzung von Netzwerken mit gleichen Interessen folgen muss, um | |
größere Gemeinschaften mit mehr Wirkungskraft aufzubauen und politischen | |
Einfluss entfalten zu können. Das klingt sehr einfach, und das ist es | |
letztendlich auch. Es gibt unglaublich viele kleine Gruppen, die sich für | |
die Lösung sozialer und ökologischer Probleme engagieren, die eine | |
lebenswerte Zukunft gestalten wollen, aber sich nicht mit anderen | |
verbinden. | |
## Wenige können viel schaffen | |
Es gibt noch sehr viel Raum für engagierte Menschen, sich stärker zu | |
vernetzten und Netzwerkkräfte zu bündeln. Die sinnvolle Nutzung digitaler | |
Technologien gehört dazu. Gesellschaftliche Veränderung ist immer ein | |
Dreischritt: ich – wir – alle. Und alle sind weniger, als viele vielleicht | |
denken. Erica Chenoweth, Politikwissenschaftlerin an der Harvard | |
University, entdeckte das „[4][Gesetz der 3,5 Prozent]“. Chenoweth hat | |
Bewegungen untersucht, deren Ziel der Sturz eines Regimes oder einer | |
Regierung war. | |
Aber auch Protestbewegungen, die einen Wechsel der Politik erzwingen | |
wollen, fallen unter dieses Gesetz. Der Prozentwert bezieht sich auf den | |
Anteil der Bevölkerung, der sich aktiv für ein Thema engagieren muss, um | |
politische Entscheidungen zu erwirken, also tatsächlich für seine Anliegen | |
auf die Straße geht und sich als Gruppe Sichtbarkeit verschafft. Eine | |
erstaunlich niedrige Zahl. Bezogen auf die Bevölkerung Deutschlands sind | |
dies knapp 3 Millionen Menschen. | |
[5][Fridays for Future] war auf dem richtigen Weg, hat aber leider zu früh | |
aufgegeben und das Netzwerkkonzept zu wenig verfolgt. Zum Vergleich: Etwa | |
9,3 Millionen Menschen in Deutschland ernähren sich fleischlos. Das sind 11 | |
Prozent der Bevölkerung. Vernetzt euch und eröffnet den Weg in ein deutlich | |
fleischreduziertes und klimafreundlicheres Zeitalter. Es bleibt dabei: Den | |
ersten Schritt müssen immer wir machen. Nicht der Nachbar mit seinem | |
übergroßen SUV. | |
Nicht die Politik mit umfassenden Subventionen für Wärmepumpen. Und auch | |
nicht die Industrie mit Lösungen für eine Kreislaufwirtschaft. Noch während | |
der Mittelstandsgeburtstagsfeier haben wir eine neue Gruppe gegründet: | |
Wöchentlich teilen wir unsere privat gefahrenen Auto- und Fahrradkilometer | |
und die gemachten neuen Erfahrungen. Fast alle machen mit. Ein erster | |
Schritt. Jetzt brauchen wir noch eine App, die solche Netzwerkinitiativen | |
unterstützt. Und ich weiß auch schon, wen ich dazu ansprechen kann. | |
16 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Streitgespraech-ueber-Klimaschutz/!6024962 | |
[2] /Umweltbewusste-Fleischproduktion/!5894395 | |
[3] /Rutger-Bregman-ueber-Moral/!6061507 | |
[4] https://cup.columbia.edu/book/why-civil-resistance-works/9780231156820 | |
[5] /Klima--und-Demokratiebewegung/!6068003 | |
## AUTOREN | |
Udo Kords | |
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