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# taz.de -- Proteste in Serbien: Der nackte Kaiser
> Der Studierendenaufstand hat Serbiens Ministerpräsidenten Miloš Vučević
> zum Rücktritt gezwungen. Doch das Spiel ist längst nicht entschieden.
Bild: Studenten auf dem Weg nach Novi Sad, 31. Januar
Am vergangenen Donnerstag begann der Marsch der Belgrader Studenten nach
Novi Sad. Rund 80 Kilometer wollen sie zu Fuß durch die serbische Provinz
zurücklegen. Eigentlich ist hier die Wahlbasis des alles bestimmenden
serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vučić und seiner Serbischen
Fortschrittspartei (SNS). Doch unterwegs wurden die Studenten wie die
Befreier Serbiens empfangen. Überall stießen sie auf Beifall. „Habt ihr das
gemerkt, dass wir alle auf einmal wieder lächeln?“, fragte eine ältere Frau
in der Ortschaft Stara Pazova mit Tränen in den Augen. Sie ist nicht die
Einzige, die gerührt ist.
Die Wähler, deren Zuneigung sich das Regime über ein Jahrzehnt durch
gleichgeschaltete Medien gesichert hatte, empfingen die studierenden
Rebellen mit selbst gebackenen Kuchen, Braten, Getränken. Die Studenten
kommen aus allen Belgrader Fakultäten. Vor zwei Monaten begann ihr Protest,
mittlerweile sind alle Universitäten des Landes besetzt.
Die jungen Menschen, die gegen die korrupte [1][serbische Autokratie]
aufgestanden sind, haben etwas unmöglich Erscheinendes geschafft. Innerhalb
von zwei Monaten haben sie die eingeschläferte serbische Gesellschaft
wachgerüttelt – und sie stecken an.
In Novi Sad wollen sie am Samstag alle drei Brücken über die Donau
blockieren. Genau drei Monate ist es dann her, dass das Vordach des
Bahnhofs in Novi Sad einstürzte und 15 Menschen tötete. Regierungsvertreter
halten das für einen tragischen Unglücksfall, immer mehr Bürger jedoch für
„Mord“ infolge der endemischen Korruption im Land.
## „Ihr habt Blut an den Händen“
Die Tragödie löste Bürgerproteste aus, die Parole: „Ihr habt Blut an den
Händen.“ Der Slogan, verbunden mit dem Logo einer roten Hand, verbreitete
sich blitzartig. Zuvor hatten Vučić und seine Gefolgschaft jegliche
Rebellion unbeschädigt gemeistert. Doch dann wurde bei einer Demo ein
Student der Kunstakademie von Novi Sad verhaftet. Kunststudentinnen und
-studenten, die in der Folge in Belgrad demonstrierten, wurden von
angeblich zufällig vorbeilaufenden Passanten verprügelt. Letztere waren
blöd genug, sich ablichten zu lassen, und entpuppten sich bald als
Funktionäre und Mitglieder der SNS.
Den Studierenden platzte der Kragen. Nach dem Motto „Einer für alle – alle
für einen!“ besetzten sie im Rekordtempo eine Fakultät nach der anderen,
bis im Januar alle serbischen Universitäten blockiert waren.
Das Regime beschimpfte sie als „Auslandssöldner“, „Verräter“, „Anti…
Halbstarke mit Kapuzen auf dem Kopf verprügelten die Studenten. Bei einigen
der täglichen Straßenblockaden wurden Studenten absichtlich überfahren.
Doch nichts nützte dem Regime. Es wurden mehr und mehr, andere schlossen
sich ihnen an – darunter Professoren, Lehrer, Richter, Ärzte, Rentner,
Veteranen. Die serbische Anwaltskammer rief einen siebentägigen Streik aus,
Theater im ganzen Land stellten ihre Arbeit ein, Ingenieure stellten sich
hinter die Studenten. Vučić versuchte einzulenken, gab sich väterlich und
großzügig, doch es war zu spät.
Die Studenten kümmerten sich nicht um Vučićs Versuche. Sie forderten weiter
Rechtsstaatlichkeit und dass alle Verantwortlichen für den Tod in Novi Sad
bestraft werden. Für einen Autokraten, der mit eiserner Faust regiert, gibt
es nichts Schlimmeres, als dass man ihn nicht ernst nimmt. Der Kaiser war
nackt.
Am 28. Januar [2][trat Vučićs Ministerpräsident Miloš Vučević zurück]. D…
das Spiel ist noch nicht entschieden. Die größte Stärke des
Studentenwiderstands ist gleichzeitig seine größte Schwäche: Er hat keine
Anführer, und die jungen Menschen verachten die Opposition ebenso wie
regierende Parteien. Ohnehin ist fraglich, ob die Opposition überhaupt die
Macht übernehmen könnte. Sie ist [3][völlig marginalisiert]. USA und EU
stört der serbische Autokrat wohl nicht, solange er den Anschein einer
Demokratie aufrechterhält.
Staatspräsident Vučić kann jetzt entweder im Parlament eine neue Regierung
von seinen Gnaden wählen lassen oder vorgezogene Wahlen nach seinen eigenen
Spielregeln ausschreiben. In Sache Wahlmanipulation kann ihm kaum jemand
das Wasser reichen.
1 Feb 2025
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## AUTOREN
Andrej Ivanji
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