| # taz.de -- Einbürgerung in die USA: Zwischen Amerikasehnsucht und Amerikasorge | |
| > Seit 30 Jahren lebt unser Autor in den USA, ausgerechnet jetzt wird er | |
| > eingebürgert. Was bleibt unter Trump vom Versprechen einer großen | |
| > Gemeinschaft? | |
| Bild: Treueeid und Fähnchen dürfen nie fehlen: Einbürgerung in Washington D.… | |
| New York taz | Endlose Reihen fest verschraubter Sitze, Rücken an Rücken, | |
| frisch gewienerter Linoleumfußboden – der Raum 310 der New Yorker | |
| Einwanderungsbehörde gleicht einem überdimensionalen Flughafen-Gate. | |
| Zwischen den Sitzreihen läuft ein Beamter auf und ab und verkündet streng | |
| Anweisungen. | |
| An den Wänden hängen sepiafarbene Fotos von der Quarantäneinsel Ellis | |
| Island im New Yorker Hafen, Fotos aus der Zeit der großen | |
| Masseneinwanderung in die USA zwischen 1860 und 1920. Es sind Familien aus | |
| Italien, Deutschland oder Irland, die ihr Hab und Gut in ein paar Koffern | |
| mit sich tragen und mit ebenso ängstlichen wie hoffnungsvollen Augen dem | |
| entgegenblicken, was sie wohl in der Neuen Welt erwarten mag. | |
| Die paar hundert Menschen, die heute früh den Raum 310 bevölkern, sind so | |
| etwas wie die Nachfolger der Ellis-Island-Ankömmlinge, auch wenn sie nicht | |
| gerade frisch mit dem Schiff den Atlantik überquert haben. Es sind Menschen | |
| aus Ghana und Burkina Faso, aus Kroatien und Jamaika, aus China, aus | |
| Deutschland und vielen weiteren Ländern, die hier heute warten. | |
| In der Luft liegt eine freudige Aufgeregtheit, die auch mich ergreift. | |
| Heute ist der Tag der Vereidigung zum Staatsbürger [1][der USA], für viele | |
| das Ende eines langen Weges, gepflastert mit endlosen Interviews, | |
| beträchtlichen Gebühren, Bergen von Formularen, dem mühsamen Beschaffen von | |
| Bescheinigungen über Lebensweg, Arbeits- und Familienverhältnisse und | |
| Finanzen. | |
| Mein eigener Weg hierher war vergleichsweise einfach. Ich bin seit 1997 | |
| stolzer Inhaber einer Green Card, einer unbefristeten Arbeits- und | |
| Aufenthaltsgenehmigung. Und als [2][die deutsche Bundesregierung im | |
| Frühjahr 2024 die doppelte Staatsbürgerschaft erleichterte], packte ich die | |
| Gelegenheit beim Schopf und stellte meinen Antrag auf Einbürgerung. | |
| Das erschien mir damals eine ganz pragmatische Entscheidung: Die doppelte | |
| Staatsbürgerschaft erleichtert zahllose bürokratische Vorgänge, von | |
| Wohnsitz über Versteuerung bis hin zu Sozialversicherung. Ich hatte keine | |
| Erwartung, dass mich ein gestempeltes blaues Büchlein US-amerikanischer | |
| macht, als ich das ohnehin bin. | |
| ## Zehn Tage nach Trumps Amtsantritt | |
| Schließlich kam ich schon vor über 30 Jahren als Student nach New York und | |
| bin seither, mit Unterbrechungen, bisweilen kritischer, oft aber auch | |
| enthusiastischer Teilnehmer an Leben und Kultur dieses Landes. | |
| Doch hier, im Raum 310 der Einwanderungsbehörde, in einem modernen Zweckbau | |
| gegenüber des neoklassizistischen New Yorker Gerichts, wird der | |
| Verwaltungsakt plötzlich doch emotional aufgeladen. Umso mehr, da der | |
| Amtsantritt von Donald Trump keine zehn Tage zurückliegt. | |
| Ich muss unweigerlich daran denken, welche Dramen sich in den Räumen des | |
| gleichen Gebäudes täglich abspielen und sich [3][in den kommenden Jahren | |
| wohl noch viel häufiger abspielen werden]. Wie Asylbewerber nach Monaten, | |
| vielleicht Jahren, zu ihrer zweiten oder dritten Anhörung kommen und auf | |
| der Stelle deportiert oder interniert werden. Wie die Einwanderungsbehörde | |
| vornehmlich zur Abschiebebehörde umfunktioniert wird. | |
| Als wir alle nach dem Empfang unserer Einbürgerungsurkunde in einem großen | |
| Festsaal Platz genommen haben, überkommt mich jedoch das Gefühl, das | |
| zumindest hier, zumindest jetzt, das Einwanderungsland USA noch lebt. Der | |
| Beamte, der mit seinem miserabel sitzenden Anzug ans Mikrofon tritt, | |
| begrüßt mit spürbarer Freude alle seine neuen Mitbürger*innen. | |
| „E pluribus unum“, das Motto im Siegel der USA – „Aus vielen eines“ �… | |
| erfüllt sich hier spürbar mit Sinn. Wir alle hier, die Frau aus Bogotá, der | |
| Familienvater aus der Elfenbeinküste, der mexikanische Bauarbeiter und der | |
| deutsche Journalist werden heute hier durch einen Sprechakt eins. | |
| ## Emerson, Whitman, Thoreau | |
| Dabei fühlt es sich eben nicht so an, als ob wir als Bittsteller, als | |
| Fremde von Außen kommen, um eingelassen zu werden. In diesem Raum, in | |
| diesem Moment sind wir Amerika. | |
| Es ist ein Ideal, das mich immer noch sentimental werden lässt. Auch wenn | |
| sich mein Verhältnis zu den USA selbstredend um einiges verkompliziert hat, | |
| seit ich als 16-Jähriger mit offenem Verdeck und den Bee Gees im Autoradio | |
| den Sunset Boulevard von Los Angeles heruntergefahren bin, berauscht von | |
| einem ozeanischen Freiheitsgefühl. | |
| Im Studium hat sich meine Amerikasehnsucht dann konkretisiert, hat ein | |
| Vokabular erhalten. Begierig lasen wir die amerikanische Romantik, Emerson, | |
| Whitman, Thoreau, die von radikalen Neuanfängen, von einer Wiedergeburt auf | |
| dem neuen Kontinent geschwärmt haben, vom Abschütteln von der Last der | |
| Traditionen, von einem mutigen Nach-vorne-Schreiten ins Ungewisse, erfüllt | |
| von Optimismus und dem Glauben an eine bessere Zukunft für die Menschheit. | |
| Natürlich wurden wir gleichzeitig der Kehrseite des US-amerikanischen | |
| Experiments gewahr: der Durchsetzung der Interessen mit extremer Gewalt, | |
| des Völkermords an den Ureinwohnern, der Barbarei, der Sklaverei, des | |
| fortgesetzten systematischen Rassismus. Und doch hielt der Glaube daran, | |
| dass Amerika es besser hat. Der Glaube, dass das Land die Fähigkeit hat, | |
| sich zu reformieren und seinen eigenen Idealen immer mehr anzunähern, einer | |
| „more perfect union“ entgegenzustreben, wie Barack Obama es immer wieder | |
| ausdrückte. | |
| ## „Katrina“ und Obama | |
| Das Auf und Ab meiner ersten Jahre hier als Journalist bestätigte den | |
| Glauben an diese Fähigkeit. Zuerst war da 2004 die niederschmetternde | |
| Wiederwahl George W. Bushs und seiner neokonservativen Kamarilla, die man | |
| damals als Zeichen für die totale Korruption der US-amerikanischen Politik | |
| hielt, nicht ahnend, dass es noch viel schlimmer kommen kann. | |
| Dann ein Jahr später das totale Staatsversagen während des Hurrikans | |
| „Katrina“, das eine zynische Gleichgültigkeit gegenüber den Schwächsten … | |
| Gesellschaft offenbarte. Aber gleichzeitig war da auch die ekstatische | |
| Nacht der Wahl Obamas, die wir auf den Straßen von Harlem durchtanzten und | |
| die einem wie der Beginn einer neuen Zeit vorkam. | |
| Natürlich ist es schwer geworden, im Zeitalter von Donald Trump noch an das | |
| Gelingen des US-amerikanischen Projektes zu glauben. Aber der gelebte | |
| Alltag hier macht einem dennoch immer wieder Mut. Es mag vielleicht an New | |
| York liegen, aber die Mehrheit der Menschen, mit denen ich zu tun habe, | |
| haben die Werte von Demokratie und Pluralismus, die Hoffnung auf die | |
| Erschaffung eines funktionierenden Gemeinwesens aus einer grenzenlosen | |
| Vielfalt zutiefst verinnerlicht. | |
| So muss ich, wenn ich etwa aus Deutschland gefragt werde, wie man es hier | |
| noch aushalten kann, an einen Reportagetrip nach Florida denken, bei dem | |
| ich mit demokratischen Aktivisten im Widerstand gegen den radikalen | |
| Gouverneur Ron DeSantis gesprochen habe. „Bitte gebt uns nicht auf. Bitte | |
| vergesst uns nicht“, haben sie den Nordostler aus New York angefleht. | |
| Als wir im Festsaal der Einwanderungsbehörde schließlich gemeinsam den Eid | |
| auf die Verfassung sprechen, kann sich keiner im Saal der Bewegtheit des | |
| Moments entziehen. Viele Umarmungen, herzliches Händeschütteln. Die | |
| gemeinsame Wiedergeburt als Amerikaner bringt uns nahe, und bedeutet trotz | |
| aller politischen Realitäten noch Aufbruch und Möglichkeit. | |
| Das Gefühl der Wiedergeburt hält noch ein wenig vor. Als ich nach der | |
| Vereidigung durch die vertrauten Straßen des unteren Manhattan, durch | |
| Tribeca und Soho laufe, fühle ich mich den Menschen und der Stadt so | |
| verbunden wie noch nie. Ich komme mir vor wie Walt Whitman, den 1856 beim | |
| Überqueren des East River auf der Brooklyn Ferry eine Ekstase der | |
| Gemeinschaft überwältigt hat. | |
| Am Abend feiern wir im Red Eye Grill, einem durch und durch amerikanischen | |
| Klassiker am Broadway, standesgemäß mit einem New York Strip Steak. Das | |
| Smartphone lasse ich bis zum nächsten Morgen aus. An diesem Tag will ich | |
| nicht mehr wissen, mit welchem Unsinn Donald Trump wieder versucht hat, die | |
| amerikanischen Demokratie zu torpedieren. | |
| 8 Feb 2025 | |
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| Sebastian Moll | |
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