Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Pianist über Klassik und Roma-Musik: „Fließende Übergänge sin…
> Das klassische Atos-Trio, ein Roma-Violinist und eine Gipsy Band spielen
> in der Hamburger Elbphilharmonie. Thomas Hoppe über gegenseitige
> Inspiration.
Bild: Schaltet fließend von Klassik auf traditionelle Musik um: Der ungarische…
taz: Herr Hoppe, inwiefern war und ist Sinti- und Roma-Musik „verfemt“?
Thomas Hoppe: Insofern, als diese beiden Gruppen nicht nur schwer unter dem
Holocaust gelitten haben, sondern auch bis heute dem [1][Antiziganismus]
der europäischen Mehrheitsgesellschaften begegnen. Bei ihrer Ankunft in
Europa vor einigen Hundert Jahren galten Sinti und Roma gar als „Ägypter“ …
daher kommt übrigens das Wort Gipsy. Mit unserem Konzert in der Hamburger
Elbphilharmonie – der ersten Zusammenarbeit unseres klassischen Atos-Trios
mit Roma-Musikern – wollen wir helfen, Vorurteile abzubauen und die
wechselseitige Befruchtung von Roma- und Sinti-Musik und der europäischen
„Klassik“ aufzeigen. Zum Hintergrund: Ich selbst bin mit Sinti
aufgewachsen, habe mit zwölf von meinen Sinti-Freunden in Bad Kreuznach
ihre Sprache Romanes gelernt und kenne viele der Musiker. Meine Frau ist
Sintezza und wir erziehen unser Kinder im Kulturkreis der Sinti.
taz: Wie verschieden sind Sinti und Roma?
Hoppe: Es sind zwei ganz unterschiedliche Gruppen. Roma leben im
osteuropäischen Kulturkreis und den USA, die weit kleinere Gruppe der Sinti
in Westeuropa. Man muss sich das wie einen Baum mit denselben Wurzeln
vorstellen, die in Indien stehen und dessen Äste seit einigen Hundert
Jahren in zwei verschiedene Richtungen wachsen. Das betrifft auch die
Sprache. Beide Gruppen sprechen inzwischen so verschiedene Varianten des
Romanes, dass sie einander nicht mehr verstehen.
taz: Wie unterscheidet sich die Musik der beiden Gruppen?
Hoppe: Unter den Roma, deren Musik wir jetzt im Konzert präsentieren, gibt
es zum Beispiel die Tradition der großen Geigenvirtuosen aus Ungarn und die
vielen Kapellen, die dort noch heute in Restaurants spielen. In der
Elbphilharmonie wird unter anderem der Geiger Ernö Kalai mit seiner Gipsy
Band aus Budapest mit traditionellen Melodien zu hören sein. Außerdem kommt
aus Madrid der Geiger Gábor Szabó, auch er ungarischer Rom, aber klassisch
ausgebildet. Er wird erst, begleitet von mir am Klavier, klassische Stücke
spielen und dann, gemeinsam mit der Gipsy Band, Traditionelles. Solche
fließenden Übergänge zwischen den Gattungen und Stilen sind typisch für die
Roma-Musik.
taz: Und wie musizieren die Sinti?
Hoppe: Sinti leben seit rund 700 Jahren in Deutschland, Frankreich, den
Niederlanden und sind sich dessen sehr bewusst. Sie haben sich hier
beheimatet, und diese Ambivalenz ist tief verwurzelt: Der [2][Holocaus]t
ist zwar allgegenwärtig, auch heute noch, in der dritten Generation; dieser
Schock vererbt sich gewissermaßen. Aber man liebt Deutschland. Viele Sinti
mögen deutsche Traditionen – bayerische Marschmusik zum Beispiel oder
Gamsbart-Hüte. Ich kenne auch kaum Sinti, die nicht bewandert wären in den
deutschen Schlagern der 1950er-, 1960er-Jahre.
taz: Aber auch die Sinti haben doch eigene Musik. Wie verträgt sich das?
Hoppe: Ohne Probleme. Der 1953 verstorbene Jazzgitarrist [3][Django
Reinhardt] bleibt natürlich der wichtigste Sinti-Musiker. Aber abgesehen
davon hört man auf der gleichen Sinti-Feier eine französische Valse, Lieder
von Caterina Valente und Sinti-Jazz.
taz: Und inwiefern hat die jetzt im Konzert präsentierte Roma-Musik die
europäische Klassik geprägt?
Hoppe: Da wäre zum Beispiel der Barock-Komponist Jean-Philippe Rameau, der
1727 das Klavierstück „L’Egyptienne“ („Die Ägypterin“) schrieb. Und…
Haydn hat ein Rondo „All’Ongarese“ („Nach ungarischer Art“) komponier…
sich auf die ungarischen Roma bezog. Er hat ja von 1761 bis 1803 am Hof
Esterházy gelebt und dort etliche Roma-Kapellen gehört. Mit diesem Stück
eröffnet unser Atos-Trio das Konzert in der Elbphilharmonie. Es folgt das
2. Klaviertrio von Brahms, der ebenfalls stark von Roma-Musik beeinflusst
war; man denke an seine „Ungarischen Tänze“ mit etlichen originalen
Roma-Melodien.
taz: War das nicht eine übergriffige kulturelle Aneignung?
Hoppe: Das sehe ich nicht so. Denn umgekehrt bedienen sich die Sinti und
Roma ja auch und führen bekannte, auch klassische Stücke in ihrem eigenen,
abgewandelten Stil auf. Ich würde eher von einer gegenseitigen Inspiration
sprechen.
taz: Welche Stilmerkmale übernahmen Klassik-Komponisten von den
Roma-Kapellen?
Hoppe: Einen Stil, der darauf abzielte, das Publikum zu begeistern. Denn
die Kapellen spielten ja vor allem in Kneipen. Und wenn die Leute dort
berührt waren oder beeindruckt von der Virtuosität, zahlten sie besser. Die
Musiker nutzten zum Beispiel die ans Herz gehende, melancholische
„Zigeunermoll-Tonleiter“, aber auch spezielle Rhythmen. Im Konzert wird man
das hören, wenn Gábor Szabó die „Zigeunerweisen“ von Pablo de Sarasate
spielt oder „Tzigane“ von Maurice Ravel. Die beginnt mit einer
Riesenkadenz, einem Feuerwerk an Virtuosität.
taz: Und wie schaffen Sie im Konert den Übergang von der Klassik zur
traditionellen Musik?
Hoppe: Wenn es so klappt, wie ich es mir vorstelle, verlasse ich, der
klassische Klavierbegleiter, nach dem Ravel-Stück die Bühne, die Gipsy Band
kommt und übernimmt, zusammen mit Gábor Szabó, der dann das Cluster
wechselt und mit ihnen Traditionelles spielt. Damit wollen wir zeigen, dass
es für Roma-Musiker keine musikalischen und keine Gattungsgrenzen gibt.
Auch nicht zwischen dem klassisch ausgebildeten Gábor Szabó und der
traditionellen Gipsy Band. Denn erst mal sind ja alle Musiker und wollen
einfach nur spielen. Ob das nun in einem Tanzcafé passiert oder in der
[4][Elbphilharmonie], ist eine Dimensionsfrage, aber ansonsten macht es
keinen Unterschied: Ob da 2.000 Leute sitzen oder 20 – man spielt, um das
Publikum glücklich zu machen.
taz: Wie würde ein Mitglied der Gipsy Band zum Beispiel ein
Mozart-Geigenkonzert spielen?
Hoppe: Es fängt damit an, dass der Roma-Geiger keine Noten liest, sondern
das Stück nach mehrmaligem Hören durch die Mangel drehen, das heißt, es
improvisierend verändern kann. Das können klassische Musiker meist nicht;
selbst die Kadenz ist oft vom Komponisten vorgeschrieben. Der Roma-Geiger
würde ein Mozart-Konzert dagegen nur unter der Bedingung spielen, dass er
es so wiedergeben kann, wie er möchte.
taz: Was käme heraus?
Hoppe: Das Publikum würde durchaus erkennen, dass es Mozarts Geigenkonzert
ist. Aber es wäre natürlich um Triller ergänzt, hätte verschiedene Tempi,
wäre vielleicht verjazzt – man macht halt etwas draus. Das ist ein anderer
Stil, eine andere musikalische Freiheit. Leider hat die
Mehrheitsgesellschaft das lange mit der romantischen Freiheit
gleichgesetzt, die man mit Roma und Sinti verbindet, nach dem Motto „Die
spielen so, weil sie so frei leben.“ Das ist blanker Unsinn.
taz: Warum?
Hoppe: Weil es zum Beispiel innerhalb von Sinti-Gemeinschaften kaum
Freiheiten gibt. Vieles ist deutlich strenger geregelt als in der deutschen
Tradition: wie man heiratet, wie man sich untereinander verhält, wie man
Ältere anredet. Diese Freiheitsklischees zeigen, dass die
Mehrheitsgesellschaft bis heute wenig weiß – und sich wenig bemüht, mehr
über die Kultur der Sinti, Roma und die Unterschiede zwischen beiden
Gruppen zu erfahren.
16 Jan 2025
## LINKS
[1] /Bericht-zu-Antiziganismus/!6034224
[2] /Sinto-ueber-Mord-und-Erinnerung/!6023602
[3] /Spielfilm-ueber-Django-Reinhardt/!5455540
[4] /Elbphilharmonie-Eloge-wider-Willen/!5313507
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Sinti und Roma
Antiziganismus
Klassik
Konzert
Hamburg
Elbphilharmonie
Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Roma und Sinti
Autoritarismus
Antiziganismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Beirat der Rom*nja und Sinti*zze: Minderheit soll mitreden
Kurz vor Jahresende erfüllt sich eine lang gehegte Forderung der Rom*nja-
und Sinti*zze-Community: Sie hat ab sofort einen eigenen Beirat.
Leipziger Autoritarismus Studie 2024: Ausländerfeindlichkeit als Einstiegsdroge
Eine Studie der Universität Leipzig zeigt: In Westdeutschland nehmen
rassistische und antisemitische Vorurteile zu. Der Wunsch nach autoritären
Parteien steigt.
Antiziganismus bei Bestatter: Diskriminiert bis nach dem Tod
Keine Geschäfte mit Sinti und Roma, kein Sarg für die Holocaustüberlebende.
Der Ex-Abgeordnete Romeo Franz erhebt Vorwürfe gegen einen Bestatter.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.