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# taz.de -- Bandprojekt Melodies in My Head: Die Perspektive vom Rücksitz
> Postethnografische Musikarbeit: Das Schweizer Bandprojekt Melodies In My
> Head verbindet 80s-Synthpop mit Stimmen aus der nichtwestlichen Welt.
Bild: Daniel Jakob und Thomas Burkhalter im Berner Oberland
Ethnografie und Popmusik sind Geschwister, Kinder nicht nur derselben
technologischen Mutter (flexible, mobile Recording-Technologie), sondern
auch desselben kulturellen Dispositivs (Lebendigkeit in ihrer Bedrohtheit,
Fragilität dokumentieren). Ihren Unterschied bilden allenfalls die Zwecke,
Klassifizieren versus Verwerten – wobei diese beiden dann auch gerade die
negativen Horizonte dieser Praktiken darstellen.
Ethnografisches Recording war immer eine Inspiration für die Entwicklung
von Popmusik, stand aber auch immer im Verdacht der Ausbeutung: von
„Burundi Black“ bis zu „My Life in the Bush of Ghosts“. Brian Eno entde…
in den frühen 1970ern sein erstes [1][Fela-Kuti-Album] und erzählte allen,
dies sei die Musik der Zukunft: Es war aber auch die Musik der Gegenwart
und sie hatte eine Vergangenheit.
Der Schweizer Autor Thomas Burkhalter betreibt im Wissen darum
postethnografische Musikarbeit auf verschiedenen Ebenen (als Journalist,
Aktivist, Musiker, Veranstalter, Wissenschaftler) als eine der zentralen
Kräfte hinter der Organisation Norient. Eines ihrer Ziele besteht seit fast
20 Jahren darin, die Positionen des Musikers wie die des Ethnografen zu
revidieren und zu einer neuen interkulturellen Praxis beizutragen.
[2][Nach Büchern wie „Seismographic Sounds. Visions of a New World“] (2015,
mit Theresa Beyer und Hannes Liechti), Festivals und Podcasts ist
neuerdings auch eine Band entstanden: Melodies In My Head, die er mit dem
in der Schweiz etwa als Reggae-Vokalist und Rapper seit Jahren aktiven
Daniel Jakob betreibt.
## Vorgängerprojekte
Das Debütalbum der Band, „Joy Anger Doubt“, ist ein ungewöhnlicher Versuc…
die anders sensibilisierte, neu ausgerichtete Arbeit mit Musiker_innen und
vor allem Stimmen aus allen Teilen der Welt in einen Popmusikkontext zu
überführen.
Es fallen einem ältere Vorgängerprojekte ein, die sich darum bemühten,
andere Erfahrungshintergründe mit aktuellen Zuständen vor unseren
mitteleuropäischen Haustüren zu konfrontieren wie die Zusammenstellung
„Heimatlieder aus Deutschland“ mit diasporischen Berliner Musiker_innen aus
aller Welt, zusammengestellt von Mark Terkessidis und Jochen Kühling, und
dann von Leuten wie [3][Gudrun Gut] oder Niobe geremixt (2013).
Oder [4][die Reihe „Songs of Gastarbeiter“, eher historisch kompiliert von
Imran Ayata], dann aber auch neu gemischt (2014). Schließlich das gemeinsam
mit der Gruppe Arivati eingespielte, zweite Album des Hamburger
Schwabinggrad Balletts aus dem Umfeld von Ted Gaier, „Beyond Welcome“
(2016).
Doch während dieses sich hauptsächlich um Stimmen, politische Positionen
und musikalische Beiträge von Geflüchteten, jene um schon länger in der
Diaspora lebenden aktiven Musiker_innen kümmerten, also konkrete
Situationen eines Typus ansteuerten, geht es Melodies In My Head eher um so
etwas wie ein grundsätzliches Protokoll für den Umgang mit Klängen und
deren Urheber_innen zu entwickeln. Sie kommen, in welchem Sinne auch immer,
aus einer anderen Weltecke und verbinden andere Zwecke und Geschichten mit
ihrer Musik.
## Perspektiven vom Rücksitz
Burkhalter/Jakob folgen sinngemäß dem Rat der von ihnen konsultierten und
zu afrikanischer Kulturpolitik und Musik etwa im Senegal oder in Ghana
forschenden Londoner Soziologin Jenny Mbaye: Nimm auf dem Rücksitz Platz,
misch dich nicht ein, wenn du keine Ahnung hast, hör gut zu und genieße das
Privileg, dich doch sehr nahe bei der Steuerung aufzuhalten. Diese
Backseat-Perspektive korrespondiert dann wiederum mit Burkhalters kleinem
Manifest einer ethnomusikologischen Ethik, die er auf dem Cover abdruckt.
Musikerinnen aus aller Welt kommen nun vor allem als Spender von Ideen,
Wortbeiträgen, Soundbytes, Skits und als Vokalistinnen zu Wort, weniger
indem ausdrücklich eine nichtnordwestliche Musik gesucht wird. Die Stimmen
aus etwa Kenia und Pakistan werden stattdessen in einem eher einheitlichen
Sound integriert, den man am besten als eine Art abstrahierten, aber stark
angereicherten Synthie-Pop bezeichnen könnte – also euphorischer
80s-Dramasound.
Angereichert mit kantigen stilistischen Neuerungen aus den letzten 20
Jahren von R&B bis Trap, aber in einer klanglichen Einheitlichkeit
gehalten, die man bei der polyglotten und polysonischen Orientierung der
Norient-Arbeit gar nicht erwartet hätte.
Zudem sind auch manche Statements und die meisten darauf aufgebauten Texte
alles andere als spezifisch. Die Rede ist von „Pressure“, „Anger“ und
„Doubt“ – Begriffe, die von sich aus nicht mit lokalen Besonderheiten
verbunden sind: Wer steht nicht unter Druck? – die aber natürlich Pop-fähig
sind.
Insofern unternimmt dieses Projekt also den ziemlich kühnen Versuch der
De-Exotisierung von nicht nordwestlichen Positionen in der Popmusik. Die
eher in den Skits als in den Songs beschriebenen Kämpfe und existenziellen
Nöte werden in globalpopfähige, immer nahe an Zucker und Pathos gebaute
Hymnen gegossen.
## Große Emotionen
Manche Idee klingt, als wäre sie [5][einem 1980er-Album der Band The
Associates] entlaufen, anderes ist musikalisch so zeitgenössisch
sophisticated, wie man in der aktuellen Jahrzehntmitte nur sein kann. Die
große Verbindungsklammer bildet aber schon ein oft nur knapp vor der
Cheesyness gestoppter Breitwand-Keyboard-Sound. Man soll sich halt nicht
täuschen über die Größe der schon vom Albumtitel versprochenen Emotionen.
Interessanterweise hat man nie das Gefühl, dass diese Soundsprache
irgendwie nordwestlich ist und den nichteuropäischen Stimmen gewaltsam
einen Hintergrund aufdrängt, der nicht passt. Eher hat es den Anschein, als
ob genau diese, zwischen dickem Auftrag und rührender Direktheit
aufgespannte Musik so etwas wie das Substrat globalen Hybrid-Pop darstellt.
Trennt man chemisch präzise aktuelle, urbane Tech-affine [6][Popmusik
zwischen Kenia, Südamerika, Ostasien, Westafrika, Bulgarien, Berlin und
Bangladesch] von ihren lokalen Anteilen, kommt genau das dabei heraus, was
hier zu hören ist.
Der Sud des globalen Pop als Basis einer nichtexotisierbaren Musik des
„globalen Südens“? Dass in dieses so entstandene Klangmaterial natürlich
auch alle Dysphorien, Entfremdungen und Entwertungen der diese Globalität
tragenden ökonomischen Verhältnisse eingedrungen sind, ist nicht zu
vermeiden, hätte aber vielleicht auch manchmal einer anderen ästhetischen
Antwort bedurft als der übertreibenden Feier. Die Frage stellt sich
schließlich auch, wie man all die Melodien aus seinem Kopf wieder
herausbekommt.
6 Jan 2025
## LINKS
[1] /Erinnerung-an-Afrobeat-Begruender/!5476812
[2] /Experimentelle-Musik-im-Museum/!5274033
[3] /Westberliner-Frauenbands/!5817788
[4] /Songs-of-Gastarbeiter-Teil-Zwei/!5829195
[5] /Wiederentdeckung-von-The-Associates/!5849958
[6] /Neues-Album-von-Meridian-Brothers/!6023422
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
## TAGS
Synthie-Pop
Pop
Norient
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