# taz.de -- BVG-Fahren mit Sozialticket: Ein Gefühl von Zwangsouting | |
> Unsere Autorin schildert, wie stigmatisierend es ist, wenn man vor | |
> anderen Menschen in Bus und Bahn den Leistungsbescheid der Behörde | |
> vorweisen muss. | |
Bild: Zettel her, sonst gibt's Knöllchen: Alltag im Berliner ÖPNV für Leistu… | |
Berlin taz | Stell dir vor, du bist in einer rappelvollen Berliner U-Bahn, | |
liest irgendwas auf deinem Handy und auf einmal hörst du: | |
„Fahrkartenkontrolle. Die Fahrausweise bitte!“ In mir zuckt es dann doch | |
kurz. Ich habe meine Fahrkarte immer dabei – im Portemonnaie. Doch dieser | |
kurze Moment ist da. Nun ploppt seit Oktober zu der Angst noch das Gefühl | |
der Scham auf. Denn stell dir mal vor, du fährst U-Bahn, wirst kontrolliert | |
und beziehst Bürgergeld. | |
Und du willst nicht, dass das jede Person in der U-Bahn direkt mitbekommt. | |
Seit Oktober [1][gibt es für Bürgergeldempfänger*innen keine | |
BVG-Kundenkarten in Scheckkartenformat mehr]. War alles zu kompliziert. | |
Seitdem musst du eine Kopie von deinem Leistungsbescheid mitführen. Dieser | |
ist im DIN-A4 Format. Auch wenn du den Bescheid auf DIN-A5 ausdruckst – du | |
musst das Dokument mehrfach auffalten und dann mit dem S-Ticket | |
(Sozialticket) zusammen vorzeigen. | |
Ich spüre die Blicke der anderen förmlich. „Ach guck mal, die da kann sich | |
kein normales Ticket leisten.“ Vielleicht denkt auch niemand etwas. | |
Vielleicht ist, wie in Berlin üblich, jede*r mit sich selbst beschäftigt. | |
Doch gerade in einer sehr vollen U-Bahn kann es unangenehm werden. | |
[2][Das Thema Datenschutz scheint dann plötzlich auch keine Rolle mehr zu | |
spielen,] wenn andere, die dicht gedrängt neben mir stehen, in meinen | |
Leistungsbescheid gucken können. In einem halbleeren Waggon andererseits | |
wirkt das Auseinanderfalten meines Leistungsbescheides schon fast wie ein | |
Theaterstück, eine Persiflage auf die Ohnmacht der Berliner Verwaltung, | |
eine Fahrkarte für Bürgergeldempfänger*innen im Scheckkartenformat | |
ausstellen zu lassen. | |
## Kaum Geld zum Leben | |
Natürlich bin ich dankbar. Vor 5 Jahren bezahlten Menschen im SGB-II-Bezug, | |
damals noch mit Hartz IV, für ein BVG-Monatsticket AB ganze 27 Euro. Jetzt | |
war es weniger als die Hälfte. Für 9 Euro im Monat konnten „Bedürftige“ … | |
ich seit Corona Bus, Tram, S- und U-Bahn fahren, so viel sie wollten. | |
Mit den Sparzwängen und der Haushaltslage sind wir im nächsten Jahr bei 19 | |
Euro. Bei 563 Euro Regelsatz für alles, von Stromkosten bis Zahnpasta, | |
heißen 10 Euro weniger auch drei Vollkornbrote weniger oder das empfohlene | |
Vitamin-D-Präparat den Winter über weglassen oder [3][die 10 Euro über die | |
Berliner Tafel wieder einsparen.] | |
Zwar ist im Regelsatz auch 50,50 Euro für Mobilität vorgesehen, doch hauen | |
die einzelnen Posten insgesamt nicht hin. Der Freizeit-Kultur-Posten geht | |
bei uns für Lebensmittel, Kinderkleidung, Bücher mit drauf. Denn 47,25 Euro | |
sind bei Grundschüler*innen monatlich für Schuhe und Kleidung | |
vorgesehen. Selbst gebraucht kommt man damit nicht hin. | |
Manchmal tröste ich mich mit dem Gedanken: Vielleicht ist des einen Leid | |
des anderen Glück. Schließlich dauert der Kontrollprozess erheblich länger, | |
da die Kontrolleur*innen die Kundennummer mit der eingetragenen | |
Kundennummer auf dem S-Ticket abgleichen müssen. Der*die Kontrollierende | |
muss sich also genau meinen Leistungsbescheid angucken. In der Theorie. In | |
der Praxis wird meistens einmal genickt und weiter kontrolliert. Und manche | |
fühlen auch mit: „Lass stecken“, sagte mir der Kontrolleur neulich. Ich | |
packte mein Portemonnaie erleichtert wieder in die Tasche. | |
5 Jan 2025 | |
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Liese Rheim | |
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