# taz.de -- taz-adventskalender „24 stunden“ (5): 5 Uhr in der S-Bahn | |
> So früh am Morgen fahren häufig die gleichen Leute mit der S-Bahn. Meist | |
> wird geschwiegen. Es passiert wenig. Nur manchmal muss sich jemand | |
> übergeben. | |
Bild: Die S-Bahn hat mitunter ihre (optischen) Reize, hier an der Jannowitzbrü… | |
Stressig und chillig, hässlich und schön, herzerwärmend und abstoßend: | |
Berlin hat viele Seiten, rund um die Uhr. In diesem Advent hangeln wir uns | |
durch 24 Stunden Hauptstadtleben und verstecken jeden Tag aufs Neue 60 | |
Minuten Berlin hinter unserem [1][taz-berlin-Kalendertürchen]. Heute: ab 5 | |
Uhr in der S-Bahn von Friedrichshain nach Grünau. | |
Fünf Minuten nach 5 verlasse ich das Haus und gehe ein paar Minuten zur | |
S-Bahn. Ich fahre von Friedrichshain nach Grünau, dort arbeite ich in einem | |
Krankenhaus. Meist nehme ich die Bahn, manchmal auch das Fahrrad, damit | |
brauche ich rund eine Stunde. Mit der S-Bahn bin schon ich in einer halben | |
Stunde da. Um 5.15 Uhr sitze ich in der Bahn. Das mache ich seit mehr als | |
20 Jahren so. In Grünau angekommen, brauche ich noch ein paar Minuten zu | |
Fuß bis zum Krankenhaus. | |
Weil ich immer zur gleichen Uhrzeit vom selben Bahnhof abfahre, sehe ich | |
auch häufig die gleichen Leute, die wie ich zur gleichen Zeit zur Arbeit | |
losmüssen. Am frühen Morgen sitzen alle allein in einem Vierer, da ist so | |
wenig los, dass jeder ungestört vor sich hinstarren kann. | |
Alle ziehen einen Flunsch, gucken mürrisch. Es scheint, als ob die meisten | |
Menschen so früh am Morgen nicht gern mit der Bahn fahren. Mir macht das | |
nichts aus. Ich stehe gern früh auf. Ich habe meine Kopfhörer drin, höre | |
ein schönes Lied und schmunzel vor mich hin. Die Leute schauen irritiert: | |
Wie kann der gute Laune haben? | |
## Es ist total ruhig im Abteil | |
Die meisten Mitfahrenden dösen gar nicht, wie man meinen sollte. Eher | |
selten haben sie die Augen zu. Viele sitzen wie ich mit Kopfhörern da. Es | |
ist total ruhig im Abteil, niemand unterhält sich. Gelesen wird wenig | |
morgens um 5, zumindest kein Buch oder keine Zeitung. Vereinzelt ist jemand | |
mit der B.Z. zu sehen, mit der taz leider niemand. Die meisten haben eh das | |
Handy in der Hand. | |
In letzter Zeit sehe ich viele junge Menschen, mehr als früher, die mit mir | |
Richtung Grünau fahren. Die steigen dann in Johannisthal aus, dem früheren | |
Betriebshof Schöneweide, weil die Bahn dort ein Werk hat. Das dürften | |
Auszubildende sein. Dann sind noch die, die im Technologiepark Adlershof | |
arbeiten und dort aussteigen. | |
Nach Grünau fahren zu der Uhrzeit – abgesehen von mir – auch die | |
Angestellten von Möbel Höffner, die erkennt man an ihren Uniformen. Auch | |
viele ausländische Bauarbeiter sind Frühaufsteher – wie ich – und auf dem | |
Weg zu ihren Baustellen. Früher fuhren sie zum BER, wo sie ausgebeutet | |
wurden – heute werden sie woanders ausgebeutet. | |
In der Regel ist die Bahn morgens pünktlich. Bevor ich losgehe, checke ich | |
immer die BVG-App. Ärgerlich ist vor allem, wenn die Bahn überraschend | |
ausfällt, obwohl sie laut App eigentlich pünktlich fährt. Dann heißt es: | |
warten. Im Sommer mag das noch gehen, aber jetzt ist es besonders ätzend, | |
es ist einfach schon zu kalt. Wie in dem Witz aus DDR-Tagen. Die S-Bahn hat | |
nur vier Feinde: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Passt heute leider | |
noch immer. | |
## Alle schauen weg | |
Es gibt S-Bahn-Stationen, die sind auch so früh am Morgen große | |
Umsteigepunkte, Ostkreuz zum Beispiel. Hier merkt man, dass der in einer | |
Partyzone liegt. Da steigen auch Leute nach 5 Uhr ein, die nach einer | |
durchzechten Partynacht kaum noch geradeaus gucken, geschweige denn | |
geradeaus gehen können. Wie letztens ein junger Mann an einem | |
Freitagmorgen. Kommt rein, bleibt in der Tür stehen, dreht sich und kotzt | |
die ganze gegenüberliegende Tür voll. Und dann: Nichts. Niemand sagt etwas, | |
alle schauen weg und versuchen, möglichst viel Abstand zu gewinnen. Oder | |
wechseln beim nächsten Halt den Waggon. | |
Musikanten oder bettelnde oder die Obdachlosenzeitung verkaufende Menschen | |
sind so früh nicht unterwegs. Und es gibt immer mal Obdachlose, die in der | |
S-Bahn liegen und schlafen, die einfach die ganze Zeit hin und her fahren. | |
Die stören mich nicht. Nur wird dann manchmal der Waggon beim nächsten Halt | |
wieder leerer, weil die Zugestiegenen erst nach und nach den meist | |
unangenehmen Geruch, den die Personen verströmen, wahrnehmen. Kontrollen | |
gibt es so früh eher selten. Und nette Begebenheiten? Die gibt es leider | |
auch so gut wie nie. | |
Meine größte Waffe ist die Freundlichkeit. Auch morgens um 5. Immer alle | |
anlächeln, zur Musik mit dem Fuß wippen, vor sich hin schmunzeln … | |
Probieren Sie es doch auch mal mit einem Lächeln morgens früh um 5. | |
Patrick Hermann, Krankenhausmitarbeiter; Protokoll: Andreas Hergeth | |
5 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Hergeth | |
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