| # taz.de -- taz-adventskalender „24 stunden“ (1): 1 Uhr am Bahnhof Zoo | |
| > Auf den ersten Blick ist am Bahnhof Zoo kaum was los. Aber dann belauscht | |
| > man ein Gespräch von jungen Männern, bei dem einem fast der Atem stockt. | |
| Bild: Fußgängertunnel am Bahnhof Zoo | |
| Stressig und chillig, hässlich und schön, herzerwärmend und abstoßend: | |
| Berlin hat viele Seiten, rund um die Uhr. In diesem Advent hangeln wir uns | |
| durch 24 Stunden Hauptstadtleben und verstecken jeden Tag aufs Neue 60 | |
| Minuten Berlin hinter unserem taz-berlin-Kalendertürchen. Heute: ab 1 Uhr | |
| am Bahnhof Zoo. | |
| Es nieselt. Viel ist nicht los zu dieser Uhrzeit mitten in der Woche auf | |
| dem Hardenbergplatz. Der Minimarkt hat noch auf und auch der Imbiss Curry | |
| 36. Vor dem Bahnhof Zoologischer Garten stehen zehn Taxen in Warteschlange. | |
| Ruckartig, mit den Händen an den Rädern drehend, rollt ein verwahrlost | |
| aussehender Rollstuhlfahrer in die Eingangshalle des Bahnhofs. Direkt | |
| hinter den Türen bleibt er stehen, das bärtige Kinn sackt auf die Brust und | |
| schon ist er eingenickt. | |
| Eine Frau mit grauem Zopf, Baumfällerhemd und schweren Boots stapft durch | |
| die nahezu leere Halle. Der letzte Regio, so steht es auf der Anzeigetafel, | |
| ist um 0.52 Uhr nach Ostkreuz abgefahren, der erste geht um 4.20 Uhr nach | |
| Dessau. Einen Disput führend, stolpern zwei Betrunkene die Treppe runter. | |
| An einer Tafel mit Werbung für dm, Backwerk und Denns Biomarkt bleibt einer | |
| der beiden stehen und boxt brüllend mit der Faust gegen die Wand. | |
| Im hinteren Teil der Halle, wo es ein paar wenige Sitzgelegenheiten gibt, | |
| ist ein Mann mit langem grauen Bart und Glatze in ein dickes Buch vertieft: | |
| „Der letzte Gefangene“ von Heinz G. Konsalik. Das lese er in der Nacht aus, | |
| glaubt der Alte. Er trägt eine saubere Fleecejacke, die Hose ist fleckenlos | |
| schneeweiß, ein kleiner Rucksack liegt neben ihm. | |
| ## Keine Angst | |
| Mit dem [1][Deutschlandticket] sei er an diesem Tag aus München gekommen. | |
| Eine lange Reise sei es gewesen. Er habe wenig Geld und werde die Nacht im | |
| Bahnhof Zoo verbringen, erzählt er. „Hier hinten in der Ecke zieht es | |
| nicht.“ Am nächsten Morgen habe er einen Termin bei der | |
| Rentenversicherungsanstalt, danach gehe es zurück nach München. Nein, Angst | |
| habe er nicht, sagt der Mann und zeigt auf seinen Wanderstock, der aus | |
| Wurzelholz geschnitten ist. Schließlich sei er Daniel, der Wanderprediger, | |
| „die Engel passen auf mich auf“. | |
| Deutlich ungemütlicher ist es im Fußgängertunnel, der unter den Gleisen die | |
| Jebenstraße mit dem Hardenbergplatz verbindet. [2][In eine Nische gedrückt | |
| zwei Schlafsäcke], die Form von Körpern zeichnen sich darin ab. Ein Mann | |
| lehnt an einer Wand, neben sich eine Box, die das Gewölbe mit Musik | |
| beschallt. | |
| Aus dem Nieseln ist richtiger Regen geworden. Auf dem Parkplatz vor dem | |
| Bahnhof eine Ansammlung von acht bis zehn Männern. Einige haben die Kapuzen | |
| hochgezogen, einer hat ein Basecap auf. Im Halbkreis stehen sie zusammen, | |
| schon von weitem ist zu hören, dass heftig diskutiert wird. Um diese | |
| Uhrzeit? Der erste Gedanke: Da werden bestimmt krumme Geschäfte gemacht. | |
| Beim Näherkommen schnappt man den Satz auf: „Erst, wenn du ihn | |
| reinschiebst, ist es eine Vergewaltigung.“ Einen Moment stockt einem der | |
| Atem. Was geht hier vor? Ob man erfahren könne, was der Hintergrund ihres | |
| Gespräches sei? Verlegenes Lachen. „Wir diskutieren hier rechtliche | |
| Fragen“, antwortet einer. Dass sich das Gesprochene verdächtig anhören | |
| muss, ist allen bewusst. | |
| ## Bereitwillige Auskunft | |
| Die Männer wirken noch ziemlich jung, geben auf weitere Nachfragen | |
| bereitwillig Auskunft. Sie seien Freunde, würden sich von früher kennen. | |
| Nach der Arbeit träfen sie sich gelegentlich und heute eben auf dem | |
| Hardenbergplatz, auf dem man zu dieser Uhrzeit gut parken könne. | |
| Drei von ihnen seien Polizisten, sagt einer. Weil die fachkundig seien, | |
| spreche man auch über rechtliche Themen. Niemand hier plane | |
| Sexualstraftaten, wird schon fast mit Entrüstung versichert. Man unterhalte | |
| sich über viele Rechtsgebiete. Auch über die juristischen Folgen von | |
| Fahrerflucht habe man in dieser Nacht bereits diskutiert. | |
| Es ist kurz vor 2 Uhr. Der [3][Rollstuhlfahrer ist aufgewacht] und wieder | |
| nach draußen unter das Vordach der Bahnhofshalle gerollt. Der | |
| Wanderprediger sitzt immer noch drinnen auf der Bank. In seinem Wälzer ist | |
| er auf Seite 57 angelangt. | |
| 1 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Plutonia Plarre | |
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