Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Gisèle Pelicot als Inspiration: Grund zur feministischen Hoffnung
> Auch wenn sich das für manche vielleicht anders darstellt: Der Blick ins
> nächste Jahr ist für Feminist*innen kein Anlass, Trübsal zu blasen.
Fünf Frauen stoßen in einem Berliner Restaurant auf Gisèle Pelicot an. Es
ist der 19. Dezember 2024, ein historischer Tag, an dem 51 Täter im
französischen Avignon wegen Vergewaltigung verurteilt wurden. Frauen
weltweit nehmen Anteil an diesem Prozess. Sie fühlen sich verbunden mit
Gisèle Pelicot, denn die meisten Frauen haben in ihrem Leben selbst
sexuelle Gewalt erfahren. Laut einer Studie der Agentur der Europäischen
Union für Grundrechte jede dritte bis vierte Frau in Deutschland.
Diese Zahl ist zwar schon zehn Jahre alt, aber verbessert haben dürfte sich
die Situation für Frauen nicht. [1][Das Bundeskriminalamt zählte allein für
das vergangene Jahr 180.715 Frauen], die hierzulande Gewalt in der
Partnerschaft erlitten – und damit mehr als im Jahr 2022. Auch die Zahl der
Frauen, die [2][Vergewaltigung und sexuelle Nötigung] erlebt haben, ist im
vergangenen Jahr auf 52.330 gestiegen. Fast jeden Tag wird in Deutschland
eine Frau getötet, weil sie eine Frau ist, zwei Drittel von ihnen durch
ihren Partner oder Ex-Partner.
Diese Zahlen mögen auf viele abstrakt wirken – weil Opfer oft schweigen.
Doch schaut man sich die Zahlen an, ist offensichtlich, dass jede*r von
uns Frauen im persönlichen Umfeld hat, die bereits Opfer sexueller Gewalt
waren. Deshalb ist der Respekt gegenüber Gisèle Pelicot so groß. Und die
Hoffnung ist ebenso groß, dass dieser Fall zu einem Wandel führt. Dass
Gewalt gegen Frauen endlich aufhört. Aber Donald Trump als [3][baldiger
US-Präsident] und Friedrich Merz als möglicher nächster Bundeskanzler geben
keinen Anlass zur Hoffnung für 2025.
1997 stimmte [4][Friedrich Merz] gegen einen Gesetzesvorschlag, der
Vergewaltigung innerhalb der Ehe als Straftatbestand definierte. Merz war
gegen den überfraktionellen Antrag, weil dieser keine Widerspruchsregelung
enthielt, die die Regierungskoalition aus Union und FDP im Gesetz haben
wollte. Die Strafverfolgung hätte auf Wunsch der Frau gestoppt werden
können. Diese Regelung hätte in der Realität natürlich eher dazu geführt,
dass Frauen auf Druck des Partners ihre Anzeige wieder zurückgezogen
hätten.
## Überfraktionelle Gruppe setzt sich durch
Wegen dieser Widerspruchsregelung kündigte die SPD an, das Gesetz im
Bundesrat zu blockieren, die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt
organisierte im Bundestag gemeinsam mit den Grünen einen überfraktionellen
Gruppenantrag mit demselben Wortlaut wie in der Vorlage der Koalition, aber
ohne die Widerspruchsregelung. Dieser Antrag ging durch. Es ist wichtig,
sich nicht nur daran zu erinnern, wer 1997 gegen den Antrag stimmte –
sondern auch, wer ihn möglich machte und durchbrachte, nämlich eine
überfraktionelle Gruppe von Politiker*innen von SPD, Grünen, CDU/CSU,
FDP und PDS.
Ulla Schmidt schloss ihre Auftaktrede zur Abstimmung mit den Worten: „Ich
wünsche mir sehr, dass wir bei unserer heutigen Abstimmung gemeinsam
deutlich machen: Nichts ist unmöglich, wenn es das Richtige ist.“ Ist das
nicht eine Inspiration, die wir von 1997 ins Heute mitnehmen sollten? Zwei
Drittel aller Vergewaltigungen erleben Frauen zu Hause, im Freundeskreis
oder am Arbeitsplatz. Das Spektrum männlicher Gewalt reicht von psychischer
über körperliche Gewalt bis hin zu Tötungsdelikten. Deshalb stellte
Bundesfamilienministerin Lisa Paus am 6. November das Gewalthilfegesetz
vor. Es soll Frauen Schutz und Beratung bei häuslicher Gewalt zusichern und
ausreichend Frauenhausplätze schaffen.
Doch nur wenige Stunden später besiegelte Olaf Scholz das Ende der
Ampelregierung. Angeblich soll trotzdem noch ein entsprechendes Gesetz
durchkommen. [5][Aktuell befinden sich dazu Union, SPD und Grüne in
Gesprächen miteinander], ein überfraktioneller Zusammenschluss ist wieder
nötig – und möglich. Wie 1997 gibt es einen konkreten Streitpunkt: In Paus�…
Entwurf sollen Frauen nicht nur aufgrund ihres biologischen Geschlechts ein
Recht auf einen Frauenhausplatz haben, sondern auch aufgrund ihrer
Geschlechtsidentität. Da will die Union nicht mitgehen, sie stellt trans
Frauen als Gefahr statt als Opfer dar. Dabei zeigt der Bericht des
Bundeskriminalamts vom Mai 2024, dass die Gewalt gegen trans*,
intergeschlechtliche und nicht binäre Menschen um etwa 105 Prozent
gestiegen ist.
## Protest auf der Straße
Die Union möchte nur biologische Frauen schützen. Sollten SPD und Grüne
hier mitgehen, um einen Kompromiss zu erzielen? Oder will die Union nur
Gründe finden, um ein gemeinsames Gesetz zu verhindern? Ein wenig mehr
Protest auf der Straße als Rückenwind für mehr Gewaltschutz wäre ein gutes
Zeichen. Zum Erfolg führte 1997 nämlich auch der enorme Druck von außen,
der den damaligen Kanzler Helmut Kohl überhaupt erst dazu brachte, die
Abstimmung über das Gesetz freizugeben. Es waren gerade die konservativen
Frauen, die Druck auf die Union ausübten – unter anderem mit einem
anscheinend bis heute noch effektiven Druckmittel: mit vielen, vielen
Briefen.
Im Januar 2017, als Trump zum ersten Mal Präsident der Vereinigten Staaten
wurde, gingen Hunderttausende Frauen auf die Straße. Sie trugen rosa
Pussyhats wegen seines heimlich aufgezeichneten Zitats „Grab them by the
pussy“ („Grapsch ihnen an die Muschi“). Sexuelle Gewalt beginnt, wo solche
Sätze normalisiert werden. Sie geht durch alle politischen Lager, alle
gesellschaftlichen Gruppen. Umso verwunderlicher ist es, dass bei der Wahl
in diesem November so viele Frauen ihre Stimme Donald Trump gegeben haben.
Dem Umfrageinstitut Forsa zufolge würden 21 Prozent der Frauen in
Deutschland für Friedrich Merz stimmen. Er ist ganz gewiss kein Trump,
derartige Zitate wie die des nächsten US-Präsidenten sind von Merz nicht
bekannt. Bekannt ist allerdings sein Stimmverhalten von 1997, das wohl auch
deshalb immer wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt wird, weil es ein
Misstrauen manifestiert. Wenn es um mehr Schutz für Frauen geht – wird
Friedrich Merz dann ein Unterstützer oder eher ein Verhinderer sein?
Will Merz die Wahl gewinnen, sollte er sich dafür einsetzen, dass es bald
ein Gewalthilfegesetz gibt. Nur so kann er dem Misstrauen der Frauen
entgegenwirken. Das wird kosten. Denn Gewaltschutz kostet nun mal. Zwar
schaffte die Ampelregierung 2022 endlich den Paragrafen 219a ab und
legalisierte so das Informieren über Abtreibungen. Aber viele
frauenpolitische Vorhaben wie das Gewalthilfegesetz blieben liegen, weil
dafür Geld nötig ist. Geld, das auch die Union nicht haben wird, wenn sie
die Schuldenbremse nicht reformiert.
Wenn Frauenrechte zu teuer werden, schwindet plötzliche deren
Dringlichkeit, drohen sie wieder zu „Gedöns“ zu werden. Deshalb muss sich …
egal, wer ab 2025 in Deutschland regiert, und vielleicht besonders, wenn es
die CDU ist – der Druck auf die Politik erhöhen. Wer sich ob des
rechtskonservativen Schwenks jetzt in Aussichtslosigkeit suhlt, wirkt
vielleicht besonders links, macht es sich aber letztlich nur bequem. In der
aktuellen Ausgabe von analyse & kritik regt der Autor Jan Ole Arps sehr
inspirierend dazu an, mit solidarischer Katastrophenpolitik einen Rückzug
in die eigene Nische zu verhindern.
## Fortschritt nach Rückschritt
Sexuelle Gewalt wird bleiben, und der Kampf dagegen wird bleiben – und die
gegenseitige Hilfe. Sollten trans Frauen aus dem Schutz des
Gewalthilfegesetzes herausfallen, müssen sich wieder informelle Strukturen
aufbauen: Frauen, die ein Bett anbieten für andere, die vor Gewalt flüchten
müssen. Nur weil die Politik droht, rückschrittlich zu werden, muss dies
nicht auch die gelebte Solidarität beeinflussen.
Jedem Rückschritt kann immer auch ein Fortschritt folgen. Auf Donald Trump
2017 folgten die Frauenproteste, die rechtskonservative FPÖ-ÖVP-Regierung
unter Sebastian Kurz in Österreich beflügelte die Gründung der Omas gegen
Rechts, die bis heute fast jeden Tag für Menschenrechte auf die Straße
gehen. Wie beim Thema Vergewaltigung in der Ehe sollten wir nicht immer auf
den einen Mann starren, der sich gegen Frauenrechte ausspricht. Wir sollten
auf all jene schauen, die sich in Massen und Mehrheiten gegen
fortschrittliche Gesetze zum Schutz von Frauen und Minderheiten gestellt
haben. Denn es gibt sie, die Mehrheiten für Frauenrechte. Das zeigt die
breite Bewunderung für Gisèle Pelicot.
Am Ende des Prozesses sagte Pelicot: „Heute habe ich Vertrauen in unsere
Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft zu gestalten, in der alle, Frauen und
Männer, in Harmonie, Respekt und gegenseitigem Verständnis leben können.“
Wenn diese Frau, Opfer eines schier unglaublichen Verbrechens, nach einem
monatelangen Prozess und allem, was sie erlebt hat, Grund zum Optimismus
sieht, dann sollten wir uns von ihr inspirieren lassen.
30 Dec 2024
## LINKS
[1] /Neue-BKA-Zahlen-zu-sexualisierter-Gewalt/!6019343
[2] /Prozess-von-Gisele-Pelicot/!6051518
[3] /US-Interessen-in-Groenland/!6059068
[4] /Friedrich-Merz-und-Markus-Soeder/!6034235
[5] /Gewalthilfegesetz-im-Kabinett/!6048402
## AUTOREN
Katrin Gottschalk
## TAGS
Pelicot-Prozess
Feminismus
Vergewaltigung
Sexuelle Gewalt
Täter
GNS
Gewalt gegen Frauen
Sexuelle Gewalt
Schwerpunkt Paragraf 219a
Pelicot-Prozess
Massenvergewaltigung
Schwerpunkt Europe's Far Right
## ARTIKEL ZUM THEMA
Prozesse gegen Sexualstraftäter: Der lange Weg durch das Schweigen der Institu…
In Frankreich finden mehrere Prozesse gegen Sexualstraftäter statt.
Darunter der gegen den Arzt und pädophilen Serientäter Joël Le Scouarnec.
Keine Reform des Paragrafen 218: Wut über die Blockierer – und dennoch Trium…
Eine Entkriminalisierung von Abtreibungen wird es vorerst nicht geben in
Deutschland. Wie bitter. Aber wir sind viele und wir kämpfen weiter!
Urteil im Pelicot-Prozess: Höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel
Dominique Pelicot erhielt die Höchststrafe und muss für 20 Jahre ins
Gefängnis. Der Prozess hat die Aufmerksamkeit gegenüber sexueller Gewalt
erhöht.
Vergewaltigungsfall in Frankreich: Ein Prozess ändert alles
Am Donnerstag wird das Urteil im Vergewaltigungsfall Pelicot erwartet. Die
Verhandlungstage in Avignon verändern den Umgang mit einem Tabuthema.
Rechtspopulistinnen in Europa: Rechts, weiblich, erfolgreich
Auffallend viele Frauen kämpfen sich mit rechten Parolen nach ganz oben –
und machen damit den Antifeminismus erst so richtig salonfähig.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.