# taz.de -- Weihnachten im Kriegsgebiet: Ein normaler, unmöglicher Tag | |
> Für christliche Gemeinden im Westjordanland und im Gazastreifen steht ein | |
> zweites Weihnachten inmitten des Krieges zwischen Israel und der Hamas | |
> an. | |
Bild: Dort, wo in Bethlehem heute die Geburtskirche steht, soll Jesus Christus … | |
Elias Nadschar hat seine eigene Weihnachtsgeschichte. Als der christliche | |
Palästinenser 2007 nach der Machtübernahme der Hamas aus dem Gazastreifen | |
floh, kam er mit seiner schwangeren Frau und den zwei- und vierjährigen | |
Töchtern in Bethlehem an. Die Familie kannte niemanden. „Wir wussten nicht, | |
wo wir bleiben sollten“, sagt der 44-Jährige mit der randlosen Brille und | |
der schwarzen Lederjacke. Mitglieder einer christlichen Organisation, für | |
die er in Gaza gearbeitet hatte, hätten ihnen eine erste Wohnung | |
vermittelt. | |
Am Dienstag, zwei Tage nach dem 3. Advent, steht Nadschar auf dem | |
Krippenplatz vor der Geburtskirche in Bethlehem. In der Stadt läuten | |
Kirchenglocken, am Himmel donnern [1][israelische Kampfflugzeuge nach | |
Norden], in Richtung Syrien, wo Rebellen nach mehr als einem Jahrzehnt | |
Bürgerkrieg den [2][Diktator Assad gestürzt] haben. Der gewaltige | |
Weihnachtsbaum, der sonst zu dieser Jahreszeit den Platz überragt, fehlt | |
[3][bereits zum zweiten Mal]. Auch in diesem Jahr sollen die Straßen | |
angesichts der Zehntausenden Getöteten und des Leids im Gazastreifen | |
schmucklos bleiben. | |
Nadschar hat sein Geld nach einem Theologiestudium viele Jahre lang als | |
Touristenführer verdient. „Heute ist niemand mehr da, den man herumführen | |
könnte“, sagt er und deutet auf die spärlich besuchte Straße in Richtung | |
evangelisch-lutherischer Weihnachtskirche. | |
Seit Kriegsbeginn ist die Wirtschaft der Stadt, die zu 70 Prozent auf | |
Tourismus basiert, zusammengebrochen. Laut der Gemeinde lagen die | |
Besucherzahlen zwischen Januar und September im Vergleich zu den | |
Vorjahresmonaten bei 3 Prozent. Strikte Kontrollen an den vielen | |
[4][Checkpoints um die Stadt] sowie zahlreiche Razzien und Festnahmen durch | |
die israelische Armee sorgen für zusätzliche Anspannung. Nadschar hält | |
seine Familie heute mit Kursen für Kinder in der lokalen Kirchengemeinde | |
über Wasser. | |
Entlang der engen Gasse sitzen vor Teppichen, holzgeschnitzten Heiligen und | |
einigen Weihnachtsmützen gelangweilte Verkäufer. Manche Geschäfte haben gar | |
nicht erst geöffnet. Pro Tag verliere die Stadt derzeit 1,5 Millionen | |
Dollar, teilt die Gemeinde mit. Die Arbeitslosigkeit sei auf 36 Prozent | |
gestiegen, Familien müssten ihre Kinder aus den Universitäten nehmen, weil | |
sie sich die Gebühren nicht mehr leisten können. | |
## Viele Christen sind weggezogen | |
Vor allem Mitglieder der christlichen Gemeinde, die 40 Prozent der | |
Stadtbevölkerung ausmacht, haben nicht nur ihre Läden geschlossen, sondern | |
sind ganz gegangen. Dora Bahnan aus dem benachbarten Beit Sahour steht vor | |
einem Laden, den sie mit 13 anderen Familien gemeinsam betreibt. Hinter ihr | |
liegen Parfümfläschchen, Plastikkreuze und Olivenholzbrettchen. Ihre beiden | |
ältesten Söhne, 23 und 25 Jahre alt, haben ein EU-Visum bekommen und | |
fliegen im Januar nach Spanien, um dort Arbeit zu suchen, erzählt sie. „Es | |
ist das erste Mal, dass sie das Land verlassen. Ich weine jeden Tag.“ | |
Auch in Bethlehem ist Gaza nah, nicht nur, weil es bis dorthin gerade | |
einmal 70 Kilometer Luftlinie sind. Am improvisierten Busbahnhof der Stadt | |
zeigt Nadschar auf ein frisches Graffiti: „Ruach al-Ruach“ steht dort in | |
grünen Lettern auf Arabisch, „Seele meiner Seele“. Es sind die Worte, mit | |
denen der palästinensische Großvater Chaled Nabhan aus Gaza im November | |
2023 seine bei einem Luftangriff getötete fünfjährige Enkelin | |
verabschiedete, den Körper des Mädchens noch auf dem Arm. Er wurde online | |
zum [5][Sinnbild des Schmerzes] vieler Palästinenser im Gazakrieg. Einen | |
Tag nachdem 3. Advent in diesem Jahr traf ihn selbst eine israelische | |
Panzergranate. | |
Nadschars Bruder, bis vor einem Jahr Rektor einer christlichen Schule in | |
Gaza-Stadt, konnte mit seiner Familie erst im Frühjahr Gaza verlassen, der | |
Großteil der Familie lebt noch dort. 15.000 Dollar musste die Familie für | |
die Ausreise zahlen. „Als meine Schwägerin in der Wohnung in Kairo ankam, | |
hat sie geweint, weil sie das erste Mal seit Monaten ein Badezimmer für | |
sich alleine hatte“, sagt Nadschar. | |
Etwa einmal die Woche erlaube das brüchige Telefonnetz ein Gespräch mit den | |
Cousins und Onkeln, erzählt er. „Ich frage dann, wen immer ich erwische, | |
über alle anderen aus.“ An diesem Dienstagnachmittag bleiben die | |
Nachrichten unbeantwortet. | |
## Mehrfach ist die christliche Gemeinde unter Beschuss geraten | |
Die kleine, etwa 1.000-köpfige christliche Gemeinde in Gaza hat sich | |
größtenteils geweigert, den Norden zu verlassen, und harrt vor allem in | |
zwei Kirchenkomplexen aus. „Meine Familie lebt mit etwa 400 bis 500 anderen | |
in der katholischen Kirche der ‚Heiligen Familie‘ in Gaza-Stadt“, sagt | |
Nadschar. „Unser Familienhaus ist zerstört.“ Etwa 200 weitere Christen | |
würden unweit davon in der orthodoxen Kirche leben. | |
Mehrfach ist die christliche Gemeinde unter Beschuss geraten, etwa als am | |
7. Juli ein Luftangriff 16 Menschen auf dem Schulgelände der katholischen | |
Kirche tötete. Abgesehen davon hat aber die Armee die beiden Kirchen | |
weitgehend verschont und damit zu Inseln in einem Meer der Verwüstung | |
gemacht. | |
Laut Satellitenaufnahmen sind rund 70 Prozent aller Gebäude im Gazastreifen | |
zerstört oder beschädigt. Mindestens 45.000 Tote hat das von der Hamas | |
kontrollierte Gesundheitsministerium seit Kriegsbeginn gemeldet, rund zwei | |
Drittel von ihnen sind Frauen und Kinder. [6][Neben anderen | |
Hilfsorganisationen] hat zuletzt Ärzte ohne Grenzen Mitte Dezember in einem | |
Bericht von „klaren Anzeichen für ethnische Säuberungen“ gesprochen. | |
„Draußen liegen die Ruinen, drinnen versuchen die Priester, den Alltag | |
aufrechtzuerhalten“, sagt Nadschar. | |
Auf Facebook posten Pfarrer Gabriel Romanelli und dessen Vikar Iusuf Asad | |
fast täglich Fotos einer surrealen Normalität: Vom Gottesdienst am 1. | |
Advent im Licht von Handytaschenlampen, Kindergeburtstagen mit Kuchen und | |
Fußballspielen im Kirchhof. Das Tor, das auf die Straße führt, ist fest | |
verschlossen. Den weißen Roben der Priester und Ministranten sind die 14 | |
Monate Krieg und Entbehrung kaum anzusehen. Ihren müden Gesichtern hingegen | |
schon. | |
Die Stille der Andachten werde immer wieder von Gewehrfeuer und dem | |
Einschlag von Bomben in der Nachbarschaft durchbrochen, sagte Romanelli | |
Ende Oktober dem katholischen Magazin Terre Sainte. Anders als im Rest des | |
von Israel strikt abgeriegelten Nordens, in den [7][kaum noch Hilfsgüter | |
gelangen], haben die Kirchen demnach Lebensmittellieferungen erhalten. Die | |
würden auch mit den verbliebenen Bewohnern des Viertels geteilt, doch der | |
Bedarf sei enorm. Im Oktober und November gelangten israelischen Behörden | |
zufolge so wenige Hilfslieferungen in den Gazastreifen wie seit einem Jahr | |
nicht mehr. | |
## „Weihnachten ist ein Fest des Friedens“ | |
25 Kilometer südlich sitzen Amal Nasser Amuri und ihr Mann Toni vor ihrem | |
Zelt. Die 73-jährige Katholikin mit schneeweißen Haaren hat im sandigen | |
Boden einen kleinen Kräutergarten mit Basilikum und Minze angelegt. Vor dem | |
Krieg haben fast alle Christen in Gaza-Stadt gelebt, so auch Nasser Amuri. | |
„Weihnachten? Es gibt nichts zu feiern, bei all den Toten“, sagt sie. Das | |
Paar lebt in einem Zeltlager im Westen von Chan Junis, fernab der | |
christlichen Gemeinde. | |
Die Grenze zwischen Gaza und Ägypten stand ohnehin nur wenigen offen, doch | |
seit der israelischen Offensive im Mai ist sie geschlossen. „Ich wollte | |
seit Kriegsbeginn nur hier heraus, jetzt wünschte ich, ich könnte in den | |
Norden zurückkehren“, sagt Amuri. Doch viele, die das versuchten, haben mit | |
dem Leben bezahlt. Der [8][israelisch besetzte Netzarim-Korridor] gilt als | |
Todeszone. | |
Der muslimische Nachbar Abu Muhammad habe den beiden geholfen, ein Zelt und | |
ein Bett für den nach mehreren Schlaganfällen teilweise gelähmten Toni zu | |
organisieren. Auch an diesem Morgen kommt Abu Muhammad zu Besuch. Das | |
sonnige Wetter täuscht darüber hinweg, dass auch die Zeltlager in der von | |
Israel ausgewiesenen „humanitären Zone“ mitunter bombardiert werden und die | |
dünnen Plastikverschläge kaum vor Regen und Kälte im bevorstehenden Winter | |
schützen. | |
Meistens lächelt Amuri, wenn sie spricht. Sie habe schon viele Kriege | |
erlebt: Ihre Eltern stammen aus Akko in Israel, sie wuchs im Libanon in | |
einem Flüchtlingslager auf. 1994 kam sie mit ihrer eigenen Familie zusammen | |
mit dem damaligen Palästinenserführer Jassir Arafat nach Gaza, weil Toni | |
in dessen Organisation Fatah aktiv war. Ihre vier Kinder wuchsen dort | |
inmitten immer neuer Wellen der Gewalt auf. Daran gewöhnt hat sie sich | |
nicht: „Ich bleibe aus Angst oft nachts wach und schlafe erst am Morgen | |
ein“, sagt Amuri. Ihre vier Kinder haben Gaza schon lange vor dem Krieg | |
verlassen. Sie sind nach Libanon, nach Dänemark und nach Bethlehem | |
gegangen. | |
Fernab der christlichen Gemeinde werde sie Weihnachten nicht feiern. „Aber | |
ich würde lügen, wenn ich sage, dass mir das Fest nicht fehlt.“ Sie hätten | |
stets die Nachbarn eingeladen, Christen wie Muslime, und die zwei Söhne und | |
deren Kinder in Bethlehem besucht. „Weihnachten wird ein Tag so normal und | |
unmöglich wie jeder andere in unserer Situation.“ | |
In Bethlehem hingegen will Nadschar feiern, zumindest Zuhause. „Weihnachten | |
ist ein Fest des Friedens“, sagt er. | |
Mitarbeit: Malak Tantesh | |
24 Dec 2024 | |
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[4] /Christen-im-Westjordanland/!5900765 | |
[5] /Nachruf-auf-Khaled-Nabhan/!6054400 | |
[6] /Human-Rights-Watch-zum-Krieg-in-Gaza/!6049270 | |
[7] /Israelische-Offensive-auf-Gaza/!6039715 | |
[8] https://www.haaretz.com/israel-news/2024-12-18/ty-article-magazine/.premium… | |
## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
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