# taz.de -- Spielfilm „The Outrun“: Wo der Sturm zur Ruhe kommt | |
> Es wird niemals einfacher. Nora Fingscheidt inszeniert mit „The Outrun“ | |
> eine eindringliche Erzählung über die Alkoholsucht einer jungen Frau. | |
Bild: Rona (Saoirse Ronan) in „The Outrun“ | |
Junge Frauen, die unter einer Alkoholabhängigkeit leiden, sind eine | |
Seltenheit – jedenfalls im Kino. Abseits filmischer Darstellungen hingegen | |
haben junge Frauen gleichaltrige Männer beim riskanten Alkoholkonsum, | |
zumindest in Deutschland, eingeholt. Das belegen Zahlen der Bundeszentrale | |
für gesundheitliche Aufklärung. Nora Fingscheidt wendet sich somit auch in | |
ihrem zweiten englischsprachigen Film einem kaum beleuchteten weiblichen | |
Erfahrungshorizont zu. | |
Basierend auf den Memoiren von Amy Liptrot erzählt [1][„The Outrun“] die | |
Geschichte der 29-jährigen Rona (Saoirse Ronan), die in ihre Heimat, auf | |
die schottischen Orkney-Inseln, zurückkehrt, um ihre Sucht zu überwinden. | |
Bereits mit ihrem [2][Drama „Systemsprenger“] schuf die deutsche | |
Regisseurin ein eindringliches Porträt eines Mädchens, das durch alle | |
Raster der Hilfs- und Betreuungssysteme fällt. Auch „The Outrun“ folgt | |
seiner Protagonistin mit unaufdringlichem Feingefühl, ohne in | |
Sensationslust oder übertriebene Dramatisierung zu verfallen. | |
Stattdessen zeigt der Film einen von schmerzhaftem Hadern geprägten | |
Heilungsprozess. Das Drehbuch, an dem auch die Autorin der Buchvorlage | |
mitwirkte, umfasst durchaus die klassischen Stationen einer | |
Suchtgeschichte: Auf Ronas berauschende Euphorie folgt der schleichende | |
Verfall und schließlich der Tiefpunkt, der den ersten Schritt in Richtung | |
Therapie einläutet, die von Rückschlägen begleitet ist. | |
## Sensible Charakterstudie | |
Doch in „The Outrun“ wird dieses gängige Narrativ variiert, indem die | |
lineare Chronologie aufgebrochen und stattdessen in Fragmenten erzählt | |
wird. Erinnerungen und gegenwärtige Erfahrungen setzen sich wie Puzzleteile | |
zu einer sensiblen Charakterstudie zusammen. | |
So zeigt der Film, bevor Rona zu Beginn nach Hause reist, lediglich erste | |
Zerrbilder eines Abends in London, der sich im weiteren Verlauf als ihr | |
bislang heftigster Absturz herausstellt: Nachdem sie in den frühen | |
Morgenstunden aus einem Pub geworfen wird, schleppt sie sich mit letzter | |
Kraft in das Auto eines Fremden. | |
Statt sie wie versprochen nach Hause zu bringen, verprügelt der Mann sie. | |
Nur das entschlossene Eingreifen eines Passanten verhindert noch | |
Schlimmeres. | |
Auf der Insel, wo sie ihrem Vater (Stephen Dillane) auf der Farm hilft, | |
Ställe ausmistet und Lämmer zur Welt bringt, kehren solche | |
Erinnerungsfetzen zurück, wie Flashbacks nach einem rauschinduzierten | |
Filmriss flackern sie auf. Oftmals kreisen sie um Daynin (Paapa Essiedu), | |
Ronas Ex-Freund. Über das unzählige Male gebrochene Versprechen, dass sie | |
mit dem Trinken aufhören werde, setzt er sich ihren immer drastischeren | |
Eskapaden aus, ehe er sie schließlich verlässt. | |
## Traumatische Kindheit trägt Mitschuld | |
Auf eine letztgültige Erklärung dafür, warum Rona trotz einer | |
vielversprechenden Karriere als Biologin und eines abwechslungsreichen | |
Lebens in den Alkoholismus abrutschte, verzichtet „The Outrun“ wiederum. | |
Statt die komplexen Ursachen für eine Suchterkrankung zu simplifizieren, | |
deutet das Drama lediglich an, dass eine traumatische Kindheit einen | |
bedeutenden Anteil daran trägt. | |
Die bipolare Störung ihres Vaters, von dem sich die Mutter Annie (Saskia | |
Reeves) vor Jahren trennte und sich danach in einen strengen Glauben | |
flüchtete, hat allerdings auch in der Gegenwart noch schwere Auswirkungen | |
und stellt als Teil einer dysfunktionalen Familiendynamik eine der | |
zentralen Herausforderungen für Ronas Abstinenz dar. | |
Da sie bei ihren Eltern keinen Halt finden kann, zieht es Rona immer wieder | |
hinaus in die Natur. Die Kamera von Yunus Roy Immer („Systemsprenger“) | |
fängt die melancholische Schönheit des abgelegenen Archipels, seine steilen | |
Klippen, die tosenden Wellen und den meist wolkenverhangenen Himmel in | |
stimmungsvollen Bildern ein. | |
Die raue Umgebung wird so zu Ronas eigentlichem Gegenüber erhoben, das | |
sowohl sicherer Rückzugsort als auch einengendes Gefängnis ist. Erst durch | |
diese erzwungene Einsamkeit erkennt sie, dass es genau dieses | |
Zurückgeworfenseins auf sich selbst bedarf – dass sie allein mit sich sein | |
muss, um zu sich zu kommen. | |
## Es wird niemals einfacher | |
Das Gespräch mit einem anderen Inselbewohner, der Rona von seiner eigenen | |
Suchtgeschichte erzählt, erweist sich so als ein wichtiger Schlüsselmoment. | |
„Es wird niemals einfacher“, sagt er zu ihr, „es wird nur weniger schwer.… | |
Dieser Satz, der auf eine andauernde Auseinandersetzung mit der Sucht, aber | |
auch dem Selbst und den Dingen, die den Drang nach Betäubung verstärken, | |
verweist, macht die Endlosigkeit des inneren Kampfes, den Rona zu führen | |
hat, in seiner Härte spürbar. | |
Gerade durch diese Verweigerung einfacher Antworten und die konsequente | |
Konzentration auf die Alltäglichkeit des Kampfes seiner Protagonistin | |
entwickelt „The Outrun“ eine stille, aber nachdrückliche Kraft. Besonders | |
in den introspektiven Momenten gelingt es Saoirse Ronan, ihrer Figur eine | |
beeindruckende Menschlichkeit zu verleihen. Die Hoffnung, die ihre Rona am | |
Ende empfindet, mag klein sein – aber sie ist echt. Und genau darin liegt | |
die Stärke dieses eindringlichen Porträts eines Heilungsprozesses. | |
4 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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