Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Trumps Wiederwahl: 1933 lässt grüßen
> Trumps Wiederwahl erinnert an 1933. Die Gleichgültigkeit der Anderen ließ
> die Nazis damals gewähren. Sie darf sich jetzt nicht wiederholen.
Am 30. Januar 1933 vermeldeten die Abendzeitungen: „Kabinett der nationalen
Konzentration gebildet – Hitler Reichskanzler“. Der junge Rechtsreferendar
[1][Sebastian Haffner] hielt damals seine Reaktion fest: „Eisiger Schreck.“
– „Dann schüttelte ich das ab, versuchte zu lächeln, versuchte
nachzudenken, und fand in der Tat viel Grund zur Beruhigung. Am Abend
diskutierte ich die Aussichten der neuen Regierung mit meinem Vater, und
wir waren uns einig darüber, dass sie zwar eine Chance hatte, eine ganze
Menge Unheil anzurichten, aber kaum eine Chance, lange zu regieren.“
Historische Fehlurteile unterlaufen selbst den klügsten Zeitgenossen, was
daran liegt, dass man als vitaler Teil einer Entwicklung kaum überblicken
kann, worauf sie hinausläuft. Zu nah und zu volatil sind die Ereignisse, zu
groß die Sicherheit, dass sich nichts grundstürzend verändern wird, zu
stabil das Vertrauen in die Institutionen, die auch jemanden wie Hitler in
die Grenzen des Rechtssystems einbinden wird. Und zu mächtig der Wunsch,
dass die Welt, die man kennt, auch die bleibt, als die man sie kennt. Viel
Grund zur Beruhigung, in der Tat.
Der 6. November 2024 ist der 30. Januar unserer Zeit. Denn an diesem Tag
hat eine Mehrheit der amerikanischen Wählerinnen und Wähler ihren Staat
[2][einer Gruppe von Superreichen überlassen], die weder an Demokratie noch
an Recht, weder an sozialer Gerechtigkeit noch an Emanzipation oder der
Erhaltung der natürlichen Überlebensressourcen das geringste Interesse
haben. Diese Leute besitzen jetzt nicht mehr nur unfassbar viel Geld und
die machtvollsten Kommunikationsmittel der Welt. Jetzt besitzen sie auch
den Staat. Weder der Senat noch das Repräsentantenhaus noch der Supreme
Court werden ihnen bei irgendetwas im Weg stehen, was sie nun umzusetzen
gedenken.
Der künftige Präsident zeigt täglich in geradezu obszöner Offenheit, mit
welcher Art Personen er seine Regierung besetzen wird. Niemand davon ist in
irgendeiner Weise dem liberalen Rechtsstaat und seinen Werten verbunden,
und man fühlt sich sofort an die „Racket-Theorie“ Max Horkheimers aus den
1940er Jahren erinnert, nach der früher oder später „die Herrschaft der
Personen die Form des Gesetzes“ annimmt.
Das Drehbuch dafür liegt mit dem 900 Seiten starken „Mandate for
Leadership“ der Heritage Foundation, auch bekannt unter dem Titel „Project
2025“, schon vor. Und wer der guten alten demokratietheoretischen Aussicht
anhängt, dass ja in vier Jahren wieder Wahlen sind, wird feststellen, dass
diese Wahlen nicht stattfinden werden. Gründe dafür wird es zahlreich
geben: einen Terroranschlag, einen Krieg, eine Pandemie, was auch immer.
Im ersten Schritt und sehr schnell wird einiges geschehen, was die
Politikwissenschaftlerin Marcia Pally, die gerade als Gastprofessorin in
Berlin lehrt, in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel auflistet: Das reicht
von „Robert F. Kennedy, der Impfprogramme in Frage stellt, (…) bis zur
Senkung der Sicherheitsstandards für Lebensmittel, Wasser, Benzin und
Arbeit; von Trumps Erwägung, ‚die Verfassung zu kündigen‘, bis zur
Beschleunigung des Klimawandels durch fossile Brennstoffe (‚[3][Drill,
Baby, drill]‘); von Internierungslagern für Flüchtlinge bis
Massenabschiebungen; von der Entlassung tausender Regierungsmitarbeiter,
die als nicht loyal gegenüber Trump gelten, bis zum Lizenzentzug für
Medien, die ihn kritisieren, von der Verfolgung politischer Gegner bis zum
Im-Stich-lassen der Ukraine und der NATO.“
## Kumulierte Macht
Man darf zu dieser wenig ermutigenden Aufzählung ergänzen, dass der
Trump-Regierung – übrigens im Unterschied zum durch die
Weltwirtschaftskrise stark angeschlagenen Deutschland der 1930er Jahre –
die militärisch stärksten Streitkräfte der Erde zur Verfügung stehen, die
größte Volkswirtschaft der Welt, und dazu die mächtigsten Internetkonzerne
des Planeten. Welche kumulierte Macht dies [4][in den Händen von libertären
Antidemokraten] bedeutet, die sich einen Dreck für Menschenrechte, soziale
Gerechtigkeit oder Klimapolitik interessieren, lässt sich leicht ermessen;
wie die wenigen verbliebenen Demokratien der Welt, insbesondere jene der
Europäischen Union, sich angesichts dieser Macht positionieren werden,
ebenso.
Es werden sich viel schneller, als man heute noch meinen sollte,
Kippmomente in ohnedies schwachen Überzeugungen, Einstellungen und Werten
einstellen und Entscheidungen getroffen werden, die rapide Anpassungen an
den neuen Zeitgeist bedeuten. Gründe dafür finden sich in der Politik
immer.
Das heißt: Am 6. November 2024 war nun mal wirklich Zeitenwende, und es ist
ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet an diesem Tag die
deutsche Bundesregierung den Löffel abgegeben hat. Bei nüchterner
Betrachtung zählt aber auch das zur Gestalt einer extrem brüchig
gewordenen Gesamtfiguration der demokratischen Kultur, die praktisch
überall schon durch den erfolgreichen Angriff der Populisten fragil
geworden ist. Die Drift nach rechts ist in Italien, in den Niederlanden,
in Frankreich, in Ostdeutschland, in Ungarn und in der Slowakei eine
soziale Tatsache, längst keine Anomalie mehr – und wer würde ernsthaft
glauben, dass der Trumpismus diese Drift nicht noch weiter dynamisieren
wird?
## Deutsche Illusionen
Im politischen Journalismus einer umnachteten deutschen Medienwelt wird
schon schwer orakelt, mit welchen der Gestalten der künftigen US-Regierung
denn wohl zu reden sei und welche möglicherweise weniger schlimm als andere
wären – schließlich kommen einige ja doch, wie man in der Zeit anmerkt,
sogar von Elite-Universitäten. Derweil schlagen die Blomes und die
Poschardts konsequent weiter auf die Grünen ein, obwohl oder gerade weil es
diese Partei ist, die sich noch einen Rest Realismus bewahrt hat –
jedenfalls in der eben nicht nebensächlichen Frage, wovon denn eine
Wirtschaft leben und Wohlstand generieren soll, wenn die natürlichen und
klimatischen Überlebensvoraussetzungen in noch größerer Geschwindigkeit
denn je zerstört werden.
Immerhin waren es die Grünen, die als einzige Partei aus den desaströsen
Wahlergebnissen in Ostdeutschland die Konsequenz gezogen haben, sich neu
aufzustellen. Die anderen Parteien kehren dem Phänomen eines immer
mächtiger werdenden Populismus dagegen einfach den Rücken zu. Und werden,
soviel war schon nach dem Koalitionsbruch sichtbar, in Sachen persönlicher
Angriffe und Diffamierungen dem Vorbild des amerikanischen Wahlkampfs
folgen, und im Hinblick auf Lösungsvorschläge zu den in Zahl und Ausmaß
noch nicht dagewesenen Realproblemen ähnlich entrückt agieren wie Trump
einerseits und Harris andererseits.
Davor steht mit einem gewissen Grusel eine durchaus gebildete und
vernunftbegabte deutsche Bevölkerung, die sich längst schon nicht mehr mit
einer politischen Klasse identifiziert, die in Schablonen spricht, selbst
Emotionen noch vom Teleprompter abliest und so etwas wie Volksnähe
lediglich zu Fototerminen inszeniert.
## Deutschland steht kopflos da
Vor diesem Hintergrund wird man ermessen, wie wichtig die vorgezogenen
Neuwahlen zu Jahresbeginn 2025 und wie wegweisend die Duftmarken sein
werden, die im Wahlkampf gesetzt werden: Wenn es um Migration geht, steht
zu befürchten, dass die Union jene freundliche Übernahme der Positionen von
AfD und BSW weiter betreiben wird, die sie schon bei den letzten
Landtagswahlen und danach praktiziert hat, wirtschaftspolitisch wird sie
vollinhaltlich die Politik der verblichenen FDP vertreten, also die
sozialen Ungleichheiten im Land systematisch zu vertiefen trachten.
Die Sozialdemokraten werden sich derweil eher folkloristisch um Mindestlohn
und Soziales bemühen, während sich die Rechts- und Linkspopulisten zu all
dem nur passiv kommentierend verhalten müssen, um Stimmenzuwächse zu
verbuchen. Und die Grünen, stellt man erstaunt fest, sind nach dem
Verschwinden des Konservatismus aus der CDU und der irrlichternden
Selbstdemontage der SPD die einzige Partei, die gerade in ihrer
Konzentration um den Realo-Charismatiker Robert Habeck eine vorerst letzte
bürgerlich-liberale Moderne verkörpern und der Rechtsdrift etwas
entgegensetzen kann.
Diese Szenerie macht deutlich, dass die Wahl im Februar gerade vor dem
Hintergrund der Machtübernahme des Trumpismus in den USA weit wichtiger ist
als das Gedöns um einen Kanzlerkandidaten der Sozen oder letzte Nachrichten
aus der FDP, die eh niemand mehr wählen wird.
So sieht es aus auf der politischen Bühne – und im Bühnenhintergrund
vollzieht sich, wie gesagt, im mächtigsten Land der Erde eine autoritäre
Revolution. Und wenn Deutschland in dieser historischen Situation keine
geschichtsbewusste, verantwortungsbereite Regierung bekommt, wird das im
Selbstgespräch vertiefte, klamaukhafte und letztlich orientierungslose
„Politische Berlin“ die Abschaffung der offenen Gesellschaft weiter
befördern.
## Es braucht organisierte Bündnisse
Um zu Sebastian Haffner zurückzukommen: Es war die Fortsetzung des
Normalbetriebs, der Alltag, schreibt er, „gerade das mechanisch und
automatisch weiterlaufende tägliche Leben, was es verhindern half, dass
irgendwo eine kraftvolle, lebendige Reaktion gegen das Ungeheuerliche
stattfand.“
Alles, und das ist das wiederkehrende Verhängnis, geht so seinen normalen
Gang weiter, bald ist Weihnachten, und vielleicht gibt es sogar ein
anständiges Weihnachtsgeschäft. Und ein paar schöne Tage zwischen den
Jahren. Währenddessen entscheidet sich nur, ob die Welt von gestern, das
war die des langsamen zivilisatorischen Fortschritts in den westlichen
Demokratien, verschwindet. Oder ob wir das zivilisatorische Projekt gegen
alle Widerstände fortsetzen können.
Die außerordentlich überraschenden Demonstrationen überall im Land zu
Anfang dieses Jahres, gegen rechts und für die Demokratie, kamen auf
paradoxe Weise zu früh. Und es war ein großes Versäumnis, ihnen danach kein
Format zu geben, in dem sich zivilgesellschaftliches Engagement hätte
verstetigen und entfalten können. Da hat die organisierte Zivilgesellschaft
versagt. Jetzt, nach den Wahlen in Ostdeutschland und dem Sieg des
Trumpismus in den USA und nach dem Ende der Ampelkoalition, scheint ein
Aufbruch zu einer zukunftsfähigen Politik, die die Moderne nicht abbricht,
sondern sozial, ökologisch und wirtschaftlich fortsetzt, nochmal
schwieriger.
Jetzt gilt es, ähnlich wie mit „Unteilbar“, dem Bündnis aus NGOs,
Gewerkschaften und Initiativen von 2018, alle zu versammeln, die
gegenwärtig in den unterschiedlichen Sektionen des zivilgesellschaftlichen
Normalbetriebs vor sich hin agieren – von der Letzten Generation bis zu den
Landfrauen. Für „eine kraftvolle, lebendige Reaktion gegen das
Ungeheuerliche“, nämlich den Sieg der Menschenfeinde. Eine nächste Chance
wird es nicht geben.
1 Dec 2024
## LINKS
[1] /100Geburtstag-von-Sebastian-Haffner/!5189350
[2] /Nach-den-US-Wahlen/!6048702
[3] /US-Praesident-Trump/!6048705
[4] /Wie-er-die-US-Wahl-gewann/!6048033
## AUTOREN
Harald Welzer
## TAGS
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
Faschismus
Ampel-Koalition
Rechtsruck
Social-Auswahl
Die Welt
US-Wahl 2024
Podcast „Bundestalk“
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer „Welt“-Chefredakteur: Im Boxring der Demokratie
Der neue „Welt“-Chef Jan Philipp Burgard ist ein Amerikanophiler mit
gebrochenem Herzen. „Welt TV“ setzt mit ihm auf immer konfrontativere
Formate.
Nach den US-Wahlen: Musks schwarze Liste
Der X-Chef soll ab Januar die von Trump eingerichtete Abteilung für
Regierungseffizienz leiten. Schon jetzt stellt der Milliardär
Regierungsmitarbeiter öffentlich an den Pranger.
Ukraine-Krieg nach US-Wahl: Banges Warten auf Trump
Das russische Militär rückt in der Ukraine vor. Die Lage ist desolat. So
sehr, dass manche Akteure Trumps Präsidentschaft für eine Hoffnung halten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.