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# taz.de -- „Freiheit“ von Angela Merkel: Die Macht hatte ihren Preis
> In ihren Memoiren thematisiert die ehemalige Kanzlerin ihre ostdeutsche
> und weibliche Identität. Wer sich einen Blick hinter die Kulissen
> wünscht, wird jedoch enttäuscht.
Bild: Dresden, 19. Dezember 1991: Angela Merkel lauscht Helmut Kohl beim CDU-Pa…
Berlin taz | Im Jahr 1991 trafen sich die Spitzen der Union zu einer
Klausur im Kloster Banz. Helmut Kohl hatte Angela Merkel, damals 37 Jahre,
zur Ministerin für Frauen und Jugend ernannt – nicht zur
Familienministerin. Eine ledige Ostdeutsche ohne Kinder konnte schlecht für
Familien zuständig sein. So sah man das damals in der Union. Auf der
Tagesordnung in Banz stand [1][der Paragraph 218], ein strittiges Thema. In
der DDR hatte die Fristenlösung gegolten, die Union war eher für repressive
Gesetze.
Merkel, fachlich zuständig für Frauen, meldete sich, sah aber „an Kohls
mürrischem Gesicht, dass er über meine Wortmeldung alles andere als
begeistert war“. Sie ließ den Arm unverdrossen oben. Als sie spät zu Wort
kam, verschlug es ihr fast die Sprache. „Mit jedem Wort wurden mein Hals
und mein Nacken steifer. Als hätte mich ein Bannstrahl getroffen. Nachdem
ich zu Ende gesprochen hatte, konnte ich meinen Hals nicht mehr bewegen.“
Es dauerte Monate, bis der Schmerz verschwand.
Diese Episode beleuchtet blitzlichtartig die Fremdheit der [2][ostdeutschen
Pfarrerstochter] in dem westdeutsch, männlich geprägten, konservativen
Milieu. Und sie ist eine Parabel über Macht und Körper. Der Paragraph 218,
so wie ihn Konservative in der Union wollten, war ein Übergriff männlicher
Politik auf weibliche Körper. Der Blick der männlichen Macht, voluminös
verkörpert durch Helmut Kohl, ließ den Körper der Frau, die nicht
dazugehörte, erstarren.
Der wundersame Aufstieg der Physikerin Angela Merkel in der westdeutschen
Politik lässt sich auch als Körperinszenierung erzählen. Schon ihr Outfit
war ein Politikum. Dass sie Ministerin wurde, so steht es in Merkels
Memoiren, erfuhr sie von einem Minister, der ihr knapp mitteilte: „Du
solltest dir was Anständiges zum Anziehen kaufen.“ Eine CSU-Politikerin
hielt einen Hosenanzug mit etwas Mut für machbar. „Ein Hosenanzug als
Mutprobe? So war es damals in CDU und CSU“, so Merkels lakonischer
retrospektiver Kommentar.
Eine Szene erhellt ihre Strategie, sich in dieser giftigen Umgebung in den
90er Jahren zu behaupten. Bei einer Pressekonferenz stand sie mal neben dem
FDP-Minister Günter Rexrodt. Die Fragen richteten sich mal an ihn, mal an
sie. Bis Rexrodt, ein Kopf größer, tiefe Stimme, sich einfach hinter sie
platzierte und alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Merkel wurde, so
beschreibt sie es, stumm gestellt. „Von da an achtete ich darauf, dass ich
bei Pressekonferenzen immer mit größerem Abstand neben anderen Teilnehmern
stehen konnte und Mikrofone jeweils entsprechend weit entfernt aufgestellt
wurden.“
Merkels Waffe war [3][die genaue Beobachtung ihrer Umgebung], die gespannte
Empfindsamkeit einer, die mit den Ritualen unvertraut ist. Weil sie von
außen kam, sah sie die Selbstverständlichkeiten westdeutscher Politik
klarer und analytischer als die Inhaber der Macht. Sie ging wie eine Judoka
vor, die ihre Konkurrenz präzise studierte. Deshalb konnte sie den
„Andenpakt“, die strotzend selbstbewusste Riege bundesdeutscher
CDU-Machtmänner, auf die Matte befördern. Die sind bis heute über ihre
Niederlage verblüfft. Die Strategie war, tougher als die anderen zu sein.
„Never explain, never complain“, so die Devise. Sie wurde die kühl
kalkulierende Politikerin, die ihre Gefühle besser im Griff hatte als die
anderen. Die Macht hatte einen Preis: Merkel wurde als ostdeutsche Frau
unsichtbar.
Die Erinnerungen von Angela Merkel, Titel „Freiheit“, gut 700 Seiten lang,
sind auch der Versuch, dieses Verschwundene, das Ostdeutsche und Weibliche,
wieder sichtbar zu machen. Es findet sich darin ein spätes Bekenntnis zum
Feminismus (das ihrer Karriere in den 90er erheblich geschadet hätte). Und
sie kritisiert, für ihre Verhältnisse scharf, dass eine hochnäsige
westdeutsche Öffentlichkeit ihr Leben in der DDR auch nach 16 Jahren als
Kanzlerin nur als Defizit verbucht.
„Freiheit“ ist ein seltsames Buch, mal witzig und lebensklug, dann hölzern,
formal, steif bis zur Atemnot. Es besteht aus drei stilistisch disparaten
Teilen: dem vital erzählten Leben in der DDR, dem halbwegs reflexiv
erzählten Aufstieg bis 2005 und den 16 Jahren als Kanzlerin. Ihre Jugend
skizziert sie als Versuch, sich von dem bösartigen, lächerlichen Regime
nicht verhärten zu lassen. Das wird anekdotenreich erzählt und ist frei von
retrospektivem Heldentum. Merkel lernte in der DDR, sich als Außenseiterin
mit der Macht zu arrangieren, Machtverhältnisse nicht zu bejammern, sondern
realistisch zu sehen, ohne sich ihnen unterzuordnen.
Diese Fähigkeit war nach 1990 hilfreich. Ihr Aufstieg zur CDU-Chefin und
Kanzlerin erscheint Merkel selbst als eine Art Wunder. In dem Maße, in dem
das Staunen über ihre Karriere verdampft, wirkt der Text gestanzt und
formelhaft. Und nach 2005 zu einer auf 400 Seiten ausgebreiteten farbarmen
Kette von Krisen, Gipfeln, Staatsbesuchen, berichtet meist in
rappeltrockener Sachbearbeiterprosa.
Das ist ein Defekt des Genres. Das Publikum erwartet von Erinnerungen von
PolitikerInnen einen Blick hinter die Kulissen der Macht und Selbstkritik.
Beides [4][wird zuverlässig enttäuscht]. Gerhard Schröder hat sich nicht
für die Agenda 2010 entschuldigt, Helmut Kohl nicht für die schwarzen
Konten der CDU, Joschka Fischer keinen klugen Gedanken über den Einsatz in
Afghanistan gefasst. Auch bei Merkel gibt es keine neue Perspektive auf die
Eurokrise und ihr verstocktes Nein zu Eurobonds. De facto hat Merkel Draghi
und die EZB gezwungen, mit „Whatever it takes“ die Implosion des Euros zu
verhindern. Im Resultat hat das die EU entdemokratisiert. Auch beim
verschleppten Ausbau der erneuerbaren Energien macht sich Merkel einen
schlanken Fuß.
Beim möglichen Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens 2008, bei der
AKW-Laufzeitverlängerung und dem hastigen Atomausstieg 2011, bei der
Russlandpolitik, den Gaslieferungen und Nordstream, bei der
Migrationspolitik 2015 – nirgends finden sich neue Blickwinkel. Die
Kanzlerin hat, so steht es in „Freiheit“, im Rahmen des Möglichen immer das
Richtige getan. Das mag man unbefriedigend finden. Überraschend ist es
nicht. Die eiserne Rechtfertigung ist ein fester Bestandteil des Genres
PolitikerInnen-Memoiren.
Das wird Merkel, bei Russland und Migration, vor allem von Konservativen
wahrscheinlich nochmal polternde Kritik eintragen. Aber die Forderung, dass
PolitikerInnen gefälligst selbstkritisch zu sein haben, hat etwas
Selbstgefälliges, Wohlfeiles. Man delegiert vermeintliches Versagen auf
eine Person. KanzlerInnen sind aber in dem föderalen bundesdeutschen System
schwächer, als sie scheinen: eher Kompromissmaschinen als Machthaber.
Für das Gas aus Russland waren die SPD, die Gewerkschaft, die Mehrheit der
WählerInnen, die Unternehmerverbände und die Union. Und Merkel. Nur die
Grünen waren immer grundsätzlich skeptisch gegenüber der Abhängigkeit von
russischen Importen. Der Wunsch, dass PolitikerInnen sich entschuldigen
sollen, ist nur bedingt aufklärerisch. Er erinnert nicht zufällig an
Rituale der Beichte und stellt unpolitische Selbstreinigung in Aussicht.
Merkels Erfolgsrezept war es, frei von bundesdeutschen liberalen,
konservativen oder linken Traditionen, das Postideologische zu verkörpern.
Sie bediente perfekt die deutsche Sehnsucht nach Politik ohne Kontroversen.
Wo Merkel war, war die Mitte. Das erfüllte die Wünsche einer
entpolitisierten Gesellschaft, die nicht mit Ideen behelligt werden wollte.
[5][Bis zum Flüchtlingsherbst 2015,] den die Ex-Kanzlerin in „Freiheit“ als
Drehpunkt beschreibt.
## Putin als Klischee
Als Merkel die Grenzen offen ließ, scherte sie zum ersten Mal aus dem
Mainstream aus und streifte die Rolle ab, den Wählerinnen Zumutungen zu
ersparen. Die Kanzlerin der Mitte stellte Humanität über politische
Kalküle. Kein Wunder, dass dieser abrupte Imagewechsel jene politischen
Leidenschaften weckte, deren Befriedung Merkel doch zu garantieren schien.
Enttäuschend ist Merkels Beschreibung der Kanzlerschaft nicht, weil es an
Bußfertigkeit oder funkelnden neuen Einsichten mangelt. Sondern, weil Macht
schlechten Stil macht. Alle Lockerheit verschwindet in einer weitgehend
leblosen Aufzählung von Ereignissen, Krisen, Akteuren. Niemand in der
deutschen Politik kennt Putin so gut wie Merkel. Aber auch die
Schilderungen von Putin bleiben vage, flach, klischeehaft.
Wie bei den Erinnerungen von Kohl, Schröder, Fischer fragt man sich, warum
das Höhenplateau der Macht eigentlich so öde aussieht. Liegt es an uns?
Sind unsere von Shakespeare geprägten Vorstellungen von Intrigen, Kämpfen,
Rivalitäten dumme Kinderträume? Oder verbergen die KanzlerInnen die
Geheimnisse in einer Funktionärssprache, die wie eine Gerölllawine alles
Lebendige verrätselt? Weil den Mächtigen der Zwang, bloß keine
Angriffsflächen zu bieten, automatisch zur zweiten Natur wird?
Vielleicht alles zusammen. Die Rituale technokratischer Politik scheinen
ein stählernes Korsett zu bilden, dem auch Merkel, die mehr als viele
Männer über die Fähigkeit der Selbstdistanz verfügt, nicht entkommt. Im
Subtext beschreibt „Freiheit“ auch eine Versteifung, eine Art
Verstaatlichung einer lebendigen Person zu einer Figur, aus der fast alle
Spontaneität und Lust zu erzählen entweicht. Auch das ist ein Preis der
Macht.
26 Nov 2024
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
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