# taz.de -- Harris-Niederlage bei den US-Wahlen: Die Lady muss warten | |
> Harris war zu sehr darauf bedacht, keinen zu vergraulen. Jüdische Wähler | |
> blieben ihr trotz Vorbehalten treu, andere straften sie ab. | |
Bild: Kamala Harris wollte im Wahlkampf möglichst allen gerecht werden | |
Um vier Uhr morgens Berliner Zeit klingelt der Wecker. Das grelle Funkeln | |
des Handys durchdrängt meine geschlossenen Lider. Als ich dann auf die | |
Hochrechnungen aus den USA blicke, muss ich mir die Augen jedoch eigentlich | |
nicht reiben. Gar nicht vor Verwunderung. | |
Für einen flüchtigen Moment fühle ich mich allerdings wie in eine | |
Zeitkapsel zurückversetzt, und zwar direkt [1][ins Jahr 2016]. Damals vor | |
ziemlich genau acht Jahren hatte ich mich aus dem Fenster gelehnt und ganz | |
ohne Helm vorausgesagt, Donald Trump werde Hillary Clinton besiegen. Dass | |
ich dabei eher im Lager der New Yorker Demokratin stand, hielt mich nicht | |
davon ab, dieses Gefühl artikulieren zu wollen. | |
Oh, wie meine Prognose als süffisanter Kassandraruf abgestempelt wurde. | |
Linksliberale Bekannte auf beiden Seiten des Atlantiks lachten mich aus und | |
beschimpften mich in einer Kölner Kneipe, während die ersten Ergebnisse | |
nach und nach eintrudelten. Doch die Zahlen gewannen an Momentum, und die | |
Bauchbinde auf Fußrande des Fernsehbildschirms plötzlich berichtete, Trump | |
liege komfortabel vorne. Dann kam das eindeutige Zeichen: Clintons | |
Wahlabendparty wurde abrupt beendet. Die Tatsache, dass sie bundesweit rund | |
3 Millionen Wählerstimmen mehr als Trump erhielt, verhalf ihr nicht über | |
die Hürden [2][des Electoral College]. | |
Kurz nach halb sechs bin ich [3][live bei den Kolleg:innen Jan Feddersen | |
und Simone Schmollack im taz Talk]. Es ist 2024 wieder, und man fragt mich, | |
warum Kamala Harris hinter den Erwartungen zurückbleibe. Meine Antwort: Die | |
Erwartungen, so euphorisch man sie auch ankurbelte, waren unrealistisch. | |
Denn es genügt nicht, die eigenen Anhänger:innen zu begeistern. | |
Man muss auch neue Wählergruppen ansprechen. Genau das meistert Trump. Der | |
78-Jährige setzte auf Tiktok, aber eben nicht um [4][Swifties] zu gewinnen, | |
sondern um die Inceligentsia und die Trad Chads, wie ich sie persönlich zu | |
nennen pflege. Damit meine ich die sonst schwer erreichbare Gruppe junger | |
Männer, die sich vom sogenannten Wokism nicht sonderlich angesprochen | |
fühlen. Sie sind zwischen 18 und 35 und sehnen sich nach der | |
Übersichtlichkeit der 1950er Jahre. | |
## Misogynoir unterschätzt | |
Harris unterschätzte leider die wertkonservative Tendenz afroamerikanischer | |
Männer, so überrascht auch es nicht, dass sie ebenfalls die weißen und auch | |
hispanischen Kerle, ob Akademiker oder Fabrikarbeiter, kaum auf dem Radar | |
hatte. Bitter für Harris dürfte dabei auch die Wahrnehmung sein, dass es | |
selbst innerhalb der Schwarzen Community das Phänomen Misogynoir gibt. | |
Nicht nur bei Gangsta-Rappern, um ein billiges und doch akkurates Klischees | |
zu bedienen, sondern auch in der christlich geprägten Mittelschicht gibt es | |
Schwarze, die sich Gedanken machen, ob eine Black Lady die | |
Durchsetzungskraft besitze, um mit toxisch männlichen Demagogen auf der | |
Weltbühne zünftig umgehen zu können. | |
Hinzu kommt die politische und auch mediale Überbewertung des | |
[5][Reizthemas Abtreibung]. Viele gemäßigte weiße Frauen geben seit Monaten | |
offen an, dass die ökonomische Stabilität und nicht das Recht auf einen | |
Schwangerschaftsabbruch für sie das Wahlentscheidende sei. „Alles wird | |
immer teurer und ich kann es mir nicht einmal leisten, meine Rechnungen zu | |
bezahlen“, so zitierte eine Studie von Galvanzie Action eine Befragte | |
(April 2024). | |
## Studien missachtet? | |
Offenbar haben die Democrats auf solche Hinweise nicht flexibel genug | |
reagiert, und fast alle Umfragen lassen erkennen, dass die meisten | |
Amerikaner:innen eher dem mehrmals insolventen, 34-fach verurteilten | |
Geschäftsmann nolens volens vertrauen. | |
Nicht minder deutlich waren die Umfragen, was den sich ausweitenden | |
Nahostkonflikt betrifft. Wie ich jüngst im Meinungsstück [6][Zwischen Pech | |
und Kamala] prognostizierte, spielten die Ängste und die Unzufriedenheit | |
jüdisch-amerikanischer Wähler:innen eine tragende Nebenrolle. Besonders | |
in Pennsylvania, wo auch nur wenige tausend abgebrochene jüdische | |
Wahlstimmen als Zünglein an der Waage fungierten. | |
Seit dem markanten Anstieg antisemitischer Gewalt im Lande und rund um den | |
Globus fühlen sich Juden von den Demokraten wie im Stich gelassen. Dass | |
Harris mantraartig beteuerte, dass das Existenzrecht Israels nicht | |
verhandelbar sei, vermochte die Sorgen zahlreicher jüdischer Menschen nicht | |
zu besänftigen. | |
Besonders unerfreulich für viele den Demokraten gegenüber loyal gebliebene | |
Juden in Pennsylvania war, dass Harris den dort beliebten jüdischen | |
Gouverneur Josh Shapiro nicht als ihren Vizekandidaten gewählt hatte. Man | |
gab sich mit Tim Walz, dem Gouverneur Minnesotas, teils nur zähneknirschend | |
zufrieden, war dann aber entsetzt, als Walz die betont antiisraelische | |
Abgeordnete [7][Ilhan Omar] lobte. | |
Ungeachtet dessen deuten [8][Exit-Polls (NBC News)] daraufhin, dass Harris | |
bundesweit sage und schreibe 79 Prozent der jüdischen Wählerstimmen | |
erhalten hat, während Trump das diesbezüglich schlechteste Ergebnis der | |
Republikaner seit 24 Jahren eingefahren hat. | |
Rein numerisch betrachtet, und zwar auf Ebene der gesamten Vereinigten | |
Staaten, sind jüdische Wählende den US-Demokrat:innen also trotz allem | |
eigentlich treu geblieben, so sehr es dringenden Gesprächsbedarf gibt. | |
Sollten „israelkritische“ Linke versuchen, dem amerikanischen Judentum die | |
Schuld an Trumps Sieg zu geben, wäre dieser tendenziöse Vorwurf nicht | |
fundiert. | |
## Harris wollte zu sehr niemanden vergraulen | |
Seit 9 Uhr heute zeigen [9][Ergebnisse aus Michigan], wo Trump die Führung | |
früh übernahm, dass arabischstämmige Amerikaner:innen Harris spürbar | |
abgestraft haben. Einige wählten die weltfremde Jill Stein (Green Party), | |
andere sogar Trump. Oder sie blieben zu Hause. Harris’ Parteikollegin, die | |
Abgeordnete Rashida Tlaib, hatte darauf verzichtet, die 60-Jährige zu | |
unterstützen. Denn viele muslimische Amerikaner:innen halten Harris | |
für zu israelfreundlich. | |
So oder so hatte die noch amtierende Vizepräsidentin einen Drahtseilakt | |
gewagt. Aber in ihrer voreiligen Siegerlaune hat sie im wortwörtliche Sinne | |
das Netz vernachlässigt. Die Brat-Queen mit der Steilvorlage verschätzte | |
sich und geriet nach und nach auf die hinteren Plätze. Lange vermied sie | |
das obligate Fernsehinterview, selten artikulierte sie die Details ihrer | |
Politik. | |
Das tat Trump übrigens auch. Aber ein alter, weißer Populist kann es sich | |
leisten, Gretchenfragen auszuweichen und wirres Zeug zu reden. Harris war | |
zu sehr darauf bedacht, keine potenzielle Wählergruppen zu vergraulen. Sie | |
wurde zum feschen Liebling der Saison, wenn auch nur in der eigenen | |
Echokammer. Trump begehrt zwar auch das Bad in der Menge, aber er möchte | |
vor allem nicht geliked, sondern gefürchtet werden. Seine Fans lieben sein | |
bestialisches Brusttrommeln. Wer sonst kann E-Autos öffentlich für Mist | |
erklären und trotzdem Elon Musk als Cheerleader gewinnen? | |
## Die Lady muss warten | |
Auch Kamala sagte wie einst Hillary ihre Wahlabendparty frühzeitig ab. Es | |
war Madam Clinton immerhin gelungen, das populäre Votum überzeugend zu | |
gewinnen. Diesmal hat Mrs. Harris nicht einmal das geschafft. Wird es | |
jemals eine US-Präsidentin geben? Die Freiheitsstatue, die seit 1886 vor | |
dem New Yorker Hafen steht, bleibt geduldig. Sie hat offenbar keine andere | |
Option. | |
6 Nov 2024 | |
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[7] /Voelkermord-an-den-Armeniern/!5639057 | |
[8] https://www.nbcnews.com/politics/2024-elections/exit-polls | |
[9] /Vorwahlen-in-den-USA/!5992245 | |
## AUTOREN | |
Michaela Dudley | |
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