# taz.de -- In Gagausien herrscht die Nostalgie: Der ewige Lenin | |
> In Gagausien, eine Region im Süden der Republik Moldau, blickt eine | |
> deutliche Mehrheit der Bewohner nach Moskau. Europa ist den Menschen | |
> fremd. | |
Bild: Sie scheint noch immer präsent: Die Sowjetunion – in Gestalt einer Le… | |
Wladimir Lenin trägt Anzug, Wintermantel und eine Kappe, die seinen kahlen | |
Kopf bedeckt. In der rechten Hand hält er ein Buch, die linke Hand steckt | |
in der Manteltasche. Im Zentrum von Comrat, dem Verwaltungszentrum der | |
autonomen Region Gagausien in der Republik Moldau, blickt der Gründer der | |
Sowjetunion auf die wenigen Fußgänger herab, die die nach ihm benannte | |
Leninstraße entlang eilen. [1][Ein typisches Lenin-Denkmal], von denen es | |
in der Sowjetunion einst Tausende gab. Mancherorts steht so ein Denkmal | |
noch, wie in Moldau. | |
„Es ist wichtig, unsere Erinnerung zu bewahren. Das Denkmal darf nicht | |
zerstört werden, denn es ist unsere Geschichte, unser Leben und das, was | |
wir kennen. Warum sollten wir eine Version der Geschichte akzeptieren, die | |
wir nicht anerkennen?“, fragt die Rentnerin Ana, als sie auf das | |
Lenin-Denkmal in Comrat angesprochen wird. | |
„Im Kommunismus ging es mir gut“, sagt Ana. Sie trägt schwere Taschen, für | |
ihr Alter ist sie zügig unterwegs. „Selbst als wir damals nur 100 Rubel | |
bekamen, hat das für alles gereicht“, sagt sie. | |
[2][Die Gagausen stimmten in einem Referendum am 20. Oktober 2024, das am | |
selben Tag wie der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen stattfand, | |
deutlich gegen die Integration der Republik Moldau in die Europäische | |
Union.] 94,84 Prozent der Wähler Gagausiens entschieden sich gegen diese | |
außenpolitische Ausrichtung, die die regierende Partei für Aktion und | |
Solidarität (PAS) vorgeschlagen hatte. Die Argumente der Gegner: „Wir haben | |
Angst, dass es hier auch einen Krieg geben wird, wie in der Ukraine“, „Wir | |
wollen nicht in Europa sein, weil es dort Armut gibt oder „Sie haben | |
Schwulenparaden und werden das Geschlecht unserer Kinder ändern“ – allesamt | |
bekannte russische Propagandanarrative. | |
## 1994 bekam Gagausien seinen Sonderstatus | |
Die Gagausen sind ein Turkvolk mit orthodoxer Religion und einer starken | |
Sympathie für Russland und prorussische Politiker – ein Erbe der | |
Russifizierung zu Sowjetzeiten, das durch die russische Propaganda nach | |
der Unabhängigkeit der Republik Moldau 1991 bewahrt wurde. Sie leben in | |
drei Gebieten im Süden Moldaus auf einer Fläche von 1.800 Quadratkilometern | |
– etwa fünf Prozent des moldauischen Territoriums. Ihre Autonomie erlangten | |
sie nach einem gescheiterten Separationsversuch, ähnlich der Region | |
Transnistrien. | |
1994 verabschiedete die prorussische moldauische Regierung eine Verfassung, | |
die Gagausien einen Sonderstatus einräumte. 1995 wurde ein Gesetz über die | |
Schaffung der territorialen Verwaltungseinheit Gagausien verabschiedet, um | |
die gagausische Kultur und Sprache zu erhalten sowie der Region steuerliche | |
Anreize zu bieten. Dennoch kämpft Gagausien noch immer gegen die | |
Integration in die moldauische Gesellschaft. So sprechen hier nur wenige | |
Rumänisch. | |
Als Moldau 2014 das Assoziierungsabkommen mit der EU ratifizierte, wurde in | |
Gagausien ein eigenes Referendum abgehalten. Dabei sprach sich eine | |
Mehrheit nicht für die EU aus, sondern für die russisch dominierte | |
Zollunion. Das Referendum wurde in Moldaus Hauptstadt Chișinău für illegal | |
erklärt. | |
Ana klagt über ihre Rente von 2.000 moldauischen Lei (etwa 100 Euro) und | |
die hohen Lebenshaltungskosten, vor allem für Gas. „Die heutige Präsidentin | |
Maia Sandu hätte nach Moskau reisen sollen, um mit Wladimir Putin über | |
billigeres Gas zu verhandeln“, sagt sie. | |
## „Die Russen haben uns nichts Böses getan“ | |
„Ich verstehe nicht, warum die Russen als Feinde wahrgenommen werden. | |
Unsere Kultur ist russisch. Alles um uns herum ist russisch. Die Russen | |
haben uns nichts Böses getan“, sagt Ana. „Damals, zu Sowjetzeiten, sind wir | |
alle gut miteinander ausgekommen.“ Sie ist überzeugt, dass die Russen | |
Frieden wollten – auch in der Ukraine. Es sei die ukrainische Armee, die | |
Zivilisten töte. Es scheint, als ob für einen kurzen Moment das russische | |
Propagandafernsehen angeschaltet wurde. | |
Auch der 43-jährige Unternehmer Maxim teilt ihre Meinung zum Denkmal: „Ich | |
habe in der Schule über Lenin gelernt und Gedichte über ihn gelesen. Ich | |
kann nichts Schlechtes an dem Denkmal finden. Wir sollten bewahren, was wir | |
haben.“ Obwohl er während der Sowjetzeit noch ein Kind war, hat er | |
positive Erinnerungen an die Sowjetunion, denn „niemand war anders, alle | |
waren gleich“. Spricht man ihn auf die Deportationen Andersdenkender in | |
jener Zeit an, gibt er zu, dass in der UdSSR nicht alles gut gewesen sei. | |
„Es gab Gutes und Schlechtes“, sagt er schließlich. | |
Hinter der Lenin-Statue in Comrat befindet sich das Exekutivkomitee, die | |
lokale Regierung. Die Region wird von Ilan Shor kontrolliert, einem | |
moldauischen Oligarchen, der Moldaus Justiz entkam, israelischer und | |
russischer Staatsbürger ist und in Russland lebt. Die lokale | |
Regierungschefin in Gagausien ist die 38-jährige Evghenia Guțul, die mit | |
Shors Unterstützung ins Amt kam. Guțul wird oft als Shors „Marionette“ | |
bezeichnet, da sie keine politische Erfahrung hat und in der Öffentlichkeit | |
kaum präsent ist. | |
Nicht nur russische Narrative, sondern auch Geld haben das antieuropäische | |
Votum in Gagausien beeinflusst. Zehntausende Menschen aus der gesamten | |
Republik Moldau, einschließlich Gagausiens, wurden bestochen, um beim | |
Referendum mit Nein zu stimmen. Ermittlungen von Polizei und | |
Staatsanwaltschaft sowie eine Recherche der Zeitung Ziarul de Gardă | |
ergaben, dass diese Zahlungen über die russische Staatsbank Promsvyazbank | |
abgewickelt wurden, die internationalen Sanktionen unterliegt. Ein dafür | |
eigens aufgebautes Netzwerk auf dem gesamten Gebiet der Republik Moldau | |
koordinierte Ilan Shor von Moskau aus. | |
## Die Flagge Gagausiens und Russlands haben dieselben Farben | |
Nach dem Referendum nahm die Polizei Dutzende Personen dieses Netzwerkes | |
fest. Viele bekannten sich schuldig und sagten aus. Diejenigen, die ihre | |
Stimmen verkauft haben, riskieren erhebliche Geldstrafen von umgerechnet | |
bis zu 2.000 Euro. | |
Auf die Europäische Union setzt Tatjana große Hoffnungen. Sie ist Beamtin | |
in der Verwaltung, Mitte 40. „Ich bin für die EU. Ich sehe darin viele | |
Chancen, auch wenn die Zukunft ungewiss bleibt. Aber wir wollen | |
Veränderungen. Wir haben in der Sowjetunion gelebt, wir waren mit Russland | |
zusammen, jetzt wollen wir sehen, wie das Leben in der EU ist“, sagt sie. | |
Tatjana bedauert den gegenwärtigen Zustand Gagausiens, das jetzt von der | |
Shor-Gruppe kontrolliert werde und korrupt sei. „Ich verstehe, dass die | |
Menschen arm sind, aber nicht so arm, dass sie sich für ein paar Rubel | |
verkaufen und ausnutzen lassen müssen.“ | |
Die Flagge der Region Gagausien hat die gleichen Farben wie die der | |
Russischen Föderation, nur in anderer Reihenfolge. Die Mehrheit der | |
Bevölkerung spricht Russisch. Gagausisch und Rumänisch sind weit weniger | |
verbreitet. Das Referendum über die europäische Integration der Republik | |
Moldau verlief trotz der klaren Ablehnung in Gagausien insgesamt positiv. | |
Knapp über die Hälfte der Wähler in der Republik Moldau stimmten für eine | |
Änderung der Verfassung. Nur 10.574 Stimmen machten am Ende den Unterschied | |
zwischen Ja und Nein bei dem Referendum. | |
Am 3. November fand die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen statt. | |
[3][Die proeuropäische Staatschefin Maia Sandu] sicherte sich eine zweite | |
Amtszeit. In Gagausien erhielt sie nur knapp drei Prozent der Stimmen. Doch | |
nach der Wahl ist vor der Wahl. 2025 stehen Parlamentswahlen an. Diese | |
werden die Menschen erneut auf die Probe stellen. Werden sie den | |
europäischen Weg weitergehen? Als EU-Beitrittskandidat muss Moldau noch | |
viele Reformen durchführen und zukünftige Regierungen müssen dabei | |
entschlossen handeln. | |
8 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Natalia Zacharescu | |
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