# taz.de -- Intimitätskoordinatorin am Filmset: Ermutigung zum Neinsagen | |
> Sarah Lee entwickelt und übt mit Darsteller:innen Bewegungsabläufe | |
> für intime Filmszenen. Und stärkt ihre Position gegenüber der Regie. | |
Bild: Geübt mit Sarah Lee: Intimer Kuss in der ZDF-Serie „Love Sucks“ | |
Bremen taz | Das Kino und die anderen visuellen Medien sind auch deshalb so | |
verführerisch, weil sie unsere Schaulust befriedigen. Wir sehen uns gerne | |
andere Menschen an. Je näher wir ihnen dabei kommen, desto intensiver ist | |
die Seherfahrung. Damit wir schauen können, müssen die Darsteller*innen | |
etwas zeigen. Und das ist manchmal ein Problem. | |
Denn wenn es um Erotik, Intimität oder Nacktheit geht, sind die Interessen | |
der Menschen vor der Kamera nicht unbedingt deckungsgleich mit denen der | |
Regisseur*innen und Produzent*innen. Und da es dabei immer ein | |
Machtgefälle gibt, bei dem meistens die Schauspieler*innen in der | |
schwächeren Position sind, kommt es zu Konflikten. | |
Bis vor ein paar Jahren gehörte dies ganz selbstverständlich zu den nicht | |
angenehmen Arbeitsbedingungen in den Film- und Fernsehstudios, die viele | |
Darsteller, vor allem aber Darstellerinnen ertragen mussten, wenn sie | |
beschäftigt werden wollten. Doch wie so vieles hat sich auch dies durch die | |
Metoo-Bewegung verändert. | |
Seit einigen Jahren gibt es in der Film- und Fernsehbranche Bemühungen, die | |
Intimitätsarbeit in den visuellen Medien professioneller zu gestalten. | |
Dabei ist der neue Beruf der Intimitätskoordinator*innen | |
entstanden. | |
## Illusion von körperlicher Nähe | |
Die in London geborene, in Südafrika aufgewachsene und seit 37 Jahren in | |
Bremen lebende Sarah Lee gehört zu den ersten, die in Deutschland in diesem | |
Gewerk arbeiten. Bei einem Gespräch über ihre Arbeit fallen immer wieder | |
zwei Worte, die die verschiedenen Ebenen ihres Handwerks gut verdeutlichen: | |
„Machtstrukturen“ und „Choreografie“. | |
Einerseits sieht sie ihre Aufgabe darin, die Position der | |
Darsteller*innen am Filmset zu stärken: „Ich möchte sie dazu ermutigen, | |
nein zu sagen.“ Wenn sich eine Person bei einer Kameraeinstellung nicht | |
wohlfühlt oder wenn sie der Meinung ist, dass bei den Dreharbeiten gegen | |
ihren Willen Grenzen überschritten werden, dann ist sie deren Fürsprecher. | |
Und um solche Situationen von vornherein zu vermeiden, entwickelt sie in | |
Zusammenarbeit mit der Regie und den Schauspieler*innen einen | |
Bewegungsablauf, bei dem für die Kamera nur die Illusion von körperlicher | |
Nähe, sexuellen Handlungen und Nacktheit geschaffen wird. | |
Diese technische Arbeit vergleicht Lee mit der von Stunt- und | |
Kampfkoordinator*innen, bei denen ja auch alles so sicher wie möglich | |
gedreht wird, aber dann möglichst gefährlich aussehen soll. Einerseits muss | |
sie also gut verhandeln können. Das hat sie bei ihrer Arbeit als Agentin | |
gelernt, die die Gagen und Verträge von Schauspieler*innen mit den | |
Produktionsfirmen aushandelte. | |
Andererseits muss sie wie eine Trainerin – es gibt auch die alternative | |
englische Berufsbezeichnung „Intimacy Coach“ – bei Proben vor den | |
Dreharbeiten einzelne Bewegungen mit den Darsteller*innen einüben. Bei | |
diesen Choreografien sehen dann manchmal unbequeme und unnatürliche | |
Verrenkungen besonders attraktiv und natürlich aus. | |
Im Idealfall beginnt ihre Arbeit aber schon bei der Vorproduktion. Dann | |
liest sie das Drehbuch, markiert die Szenen, bei denen ihre Arbeit nötig | |
ist und bespricht diese mit Regie und Produktion, mit denen sie dann schon | |
in der Vorplanung Lösungen entwickelt, mit denen alle Beteiligten zufrieden | |
sind. | |
## Die Arbeit beginnt beim Drehbuch | |
Mit den Darsteller*innen wird dann deren „Wunschzettel“ durchgegangen, | |
auf dem sie angeben, wo ihre Grenzen beim Drehen liegen und ab wann sie | |
sich unwohl fühlen würden. Aber es gibt auch Filmprojekte, bei denen sie | |
kurzfristig für ein paar Drehtage engagiert wird, um bei einzelnen | |
Filmsequenzen zu helfen. | |
Zu Lees Arbeit bei den Dreharbeiten gehört es, ein „Closed-Set-Protokoll“ | |
durchzusetzen, also dafür zu sorgen, dass beim Dreh nur so viele Leute am | |
Set anwesend sind, wie unbedingt nötig. So wird die Privatsphäre gewahrt | |
und ein sicherer Raum für die Schauspieler*innen geschaffen. | |
Am Set sorgt Lee dafür, dass die Darsteller*innen mit allem Nötigen wie | |
Bademänteln und Decken versorgt sind. Außerdem kommt eine spezielle | |
„Schutzkleidung“ zum Einsatz, die einzelne Körperteile abdeckt. Bei den | |
einzelnen Takes sitzt sie dann am Monitor und achtet darauf, dass nur das | |
gedreht wird, was vorher vereinbart und schriftlich festgelegt wurde. Nach | |
dem Dreh gibt es eine Nachbesprechung, um mit den Schauspieler*innen | |
den Verlauf zu besprechen und „ihr Wohlbefinden zu überprüfen“. | |
Als ein Produzent Lee 2021 vorschlug, als Intimitätskoordinatorin zu | |
arbeiten, wusste sie noch gar nicht, dass es diesen Beruf überhaupt gab. | |
Seitdem hat sie an neunzehn Produktionen mitgearbeitet, deren Bandbreite | |
von Fernsehserien wie „Love Sucks“ über Fernsehfilme wie „Polizeiruf 110… | |
bis zu Studentenfilmen und Kinospielfilmen wie „Touched“ und „Irgendwann | |
werden wir uns alles erzählen“ reicht. | |
Für ihre Ausbildung ging sie „an die Quelle“ und studierte über einen | |
Zeitraum von drei Jahren an der Schule für „Intimacy Directors and | |
Coordinators“ (IDC) in New York. Sarah Lee erwartet, dass es eine steigende | |
Nachfrage für ihr Gewerk geben wird. Wenn es erst etabliert ist, rechnet | |
sie mit einer entsprechenden „Gestaltung von Branchenstandards und | |
Vorschriften“. | |
Auf die Frage, ob die Beschäftigung von Intimitätkoordniator*innen | |
bei Filmproduktionen obligatorisch sein sollte, antwortet sie nur halb | |
scherzhaft: Es wäre schön, wenn sie „freiwillig verpflichtend“ würde. | |
29 Dec 2024 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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