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# taz.de -- Neuer Comic von Liv Strömquist: Gegen individualistisches Elend
> Liv Strömquists Comic „Das Orakel spricht“ will uns von Selbstoptimierung
> erlösen. Es geht auch um Angst, die sich hinter Skincare-Routinen
> versteckt.
Bild: Nicht nur an den guten Ratschlägen von Influencern arbeitet sich Strömq…
Viel Sport, nur gesunde Ernährung. Ins Dankbarkeitstagebuch eintragen,
wovon das Leben gesegnet ist. Aber zuerst eine Gesichtsmassage, die das
Lymphsystem anregt. Am Abend leidenschaftliche Küsse (gut fürs
Immunsystem). Und laut lachen (gut gegen Stress). Einfach neue
Belastbarkeit tanken.
Viele werden jetzt wissen, was gemeint ist. Die beige, makel- und leblose
Bildwelt der Influencer, deren Predigten nicht Psalme zugrunde liegen,
sondern Affiliate-Links und Provisionsgebühren. Die Propaganda der
Selbstverknastung für ein langes, gesundes, stets leistungsbereites Leben.
Denn nur aufs eigene Leben kann ja überhaupt eingewirkt werden;
Finanzkrisen oder platzende Immobilienblasen hingegen: passieren, müssen
wir akzeptieren.
Mit kulturkritischem Schritt führt Politikwissenschaftlerin Liv Strömquist
ihre Leser*innen durchs Elend. Persönliches Fortkommen, Schönheit,
Schmerzfreiheit, blendende Laune, scharf gezogene persönliche Grenzen zu
anderen und Kontakt zum authentischen Ich – alles dreht sich um ein
isoliertes Individuum.
Alles ist zur Hausaufgabe geworden, deren Erledigung jede*r selbst zu
verantworten hat. Wer sich schwer damit tut, findet sich von gut gemeintem
Rat bedrängt. Der erste Schuss ist gratis, dann kommt die Paywall.
## Sieben Influencer
Strömquist wird sich in ihrem siebten auf Deutsch erschienenen Buch sieben
Influencern zuwenden, die ganz unterschiedliche Ratschläge für ein gutes
Leben austeilen. Anfangs wirkt es, als käme sie damit etwas spät und
formulierte lediglich eine Kritik, die einige schon oft genug gehört haben
werden: Oh nein, der Strohmann steckt schon wieder im Worst-Case-Szenario
fest!
Aber sie holt auf. Strömquist lässt Bilder der Welt bei Nacht folgen, eine
komplexe, weite, geheimnisvolle Welt von Ruinen, Tieren und Müllbergen. Das
hat fast Cliffhanger-Charakter.
Mit naivem Zeichenstil gestaltet Strömquist ihre Seiten. Oft wirken sie wie
Plakate: klare Farben, klare Botschaft. Nachdem sie mit der Darstellung von
Influencerkultur einen Einstieg gewählt hat, der sehr zugänglich für das
Publikum ist, traut sie den Lesenden auch eine erste Diagnose über den
individualistischen neoliberalen Lifestyle zu, in dem sie [1][den
Soziologen Zygmunt Bauman] dazu holt und zitiert.
Ihn lässt sie erklären, was passiert, wenn sogar der Tod zu einem
individuellen Ereignis wird, für das der Mensch selbst verantwortlich
zeichnen soll. Wie zuvor schon bei Armut, Krankheit, Einsamkeit,
Suchterkrankung oder einer schlaffen Gesichtshaut.
## Der Tod in Bügelfaltenhose
Ein älterer Mann mit Pfeife, weißem Haar und dunklem Anzug sitzt mit
gekreuzten Beinen am Boden und spricht: „Den Tod zu bekämpfen ist sinnlos,
aber die Todesursachen zu bekämpfen wird zum Sinn des Lebens.“ Bei solcher
Intensität wird es bleiben. Und so kommen nach und nach Theodor W. Adorno,
[2][Eva Illouz], Sigmund Freud und der Tod selbst, als Gefängniswärter in
Bügelfaltenhose, ins Bild.
Dem Medium Comic wird sie wie gewohnt nur teilweise gerecht. Aber das ist
in Ordnung. Sie erzählt uns hier keine Held*innenreise, sondern hält
entgegen den Gewohnheiten einen aufklärerischen Vortrag. Da scheint es
naheliegend, seitenweise ganz auf Figuren zu verzichten.
Als Comicmacherin lässt es Strömquist aber immer dann krachen, wenn Fäden
zusammengesponnen werden und auf harte Erkenntnis ein entlastendes Lachen
folgt. Auf Zygmunt Baumans Diagnose entwirft sie eine Szene auf dem
Friedhof. Ein sportlicher Typ zeigt auf eine Grabstele und sagt: „Diese
Person starb an einem Herzkranzgefäßleiden, das sich vermeiden lässt, indem
man sich keine Butter mehr aufs Brot schmiert.“
Zudem schöpft Strömquist die Möglichkeiten des Comics aus, so [3][sie doch
sehr klar voraussetzungsreiche Thesen] vorstellt. Hartmut Rosas Theorie der
Resonanz erklärt sie auf wenigen Seiten gut genug, um ein eigenes
Weiterdenken zu ermöglichen.
Sogar Jacques Lacans „großer Anderer“ tritt auf, ein blauer Riese, der mit
Markenlogos und religiösen Symbolen bedeckt als personifiziertes
Unbewusstes Wünsche diktiert, die viele für die ganz eigenen halten mögen.
Da, wo sie gestalterisch fast nur auf das Lettering von Tinet Elmgren
setzt, das immer etwas von einem Spickzettel hat, den man sich unter der
Schulbank durchreicht, wird deutlich: Diese Botschaften sind für dich – und
sie kommen von einer Freundin.
Überhaupt fühlt sich das Buch [4][wie ein wunderbarer Saufabend] mit einem
sehr klugen, belesenen Menschen an, der mitfühlt, aber nicht toleriert, das
kostbare Leben schlechten Ratgeber*innen wegen zu vergeuden.
Wie schreibt sie es doch im Verlauf der Geschichte: „Das Leben ist
supergut, auch mit Trauer und Verlust. Aber „das wisst ihr ja wohl
selbst!!“
14 Nov 2024
## LINKS
[1] /Zygmunt-Baumans-Memoiren/!6025797
[2] /Buch-ueber-westliche-Moderne/!6040811
[3] /Jugendbuecher/!6040797
[4] /Comic-ueber-die-Sternzeichen/!5922594
## AUTOREN
Donata Künßberg
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