| # taz.de -- Landesvorsitzende der Berliner Grünen: „Es ist doch unsere Stär… | |
| > Weniger Scheindebatten und Politik gemeinschaftlich entwickeln: Darauf | |
| > setzen Berlins Grünen-Chef*innen nach den jüngsten Misserfolgen ihrer | |
| > Partei. | |
| Bild: Wollen bald wieder regieren: Berlins Grüne-Landesvorsitzende Philmon Ghi… | |
| taz: „Bündnis90/Der Robert“ hat die taz [1][jüngst Ihren Parteinamen | |
| aktuell angepasst]. Spricht da aus Ihrer Sicht etwas dagegen? Alles auf | |
| Habeck als Kanzlerkandidaten zu setzen, erscheint wie die einzige und | |
| größte Chance der Grünen. | |
| Nina Stahr: Ich glaube, dass er der Richtige ist, um uns in die | |
| Bundestagswahl zu führen. Und ja, Menschen verkörpern natürlich immer ein | |
| Stück weit die Partei und ihre Werte, das kann man auch gar nicht komplett | |
| trennen. Aber ich würde auch die SPD nicht „die Scholz-Partei“ nennen, nur | |
| weil Olaf Scholz vorne steht. | |
| taz: Als Wahlkampfmanager ist Andreas Audretsch aus Neukölln im Gespräch. | |
| Doch wie soll ein Parteilinker einen Wahlkampf konzipieren, bei dem Habeck | |
| offenbar Wähler bis tief ins bürgerliche Lager ansprechen will? Oder soll | |
| er das gar nicht? | |
| Philmon Ghirmai: Wir führen in unserer Partei derzeit intensive Debatten, | |
| und das wird sicherlich auch beim Bundesparteitag im November in Wiesbaden | |
| so sein. Unsere Partei bewegen gerade viele Fragen, etwa bezüglich der | |
| sozialen Gerechtigkeit in diesem Land, bezüglich des Klimaschutzes und der | |
| menschenrechtsbasierten Migrationspolitik. Die werden wir in Wiesbaden | |
| diskutieren müssen, am Ende werden wir einen Kandidaten haben, der uns mit | |
| unserem Programm im Gepäck in die Bundestagswahl führen wird. | |
| taz: Den Begriff der Beinfreiheit hören die Grünen nicht gern. Aber ist es | |
| nicht konsequent, die einem Kanzlerkandidaten auch zu geben – wenn man | |
| schon einen aufstellt? | |
| Stahr: Es ist nicht so, dass wir den Begriff „Beinfreiheit“ ungern hören �… | |
| aber unsere Leute machen Politik auf Basis unseres Programms. Deswegen kann | |
| ich auch Ihre Frage zu Andreas Audretsch und Robert Habeck überhaupt nicht | |
| nachvollziehen: Das sind beides Grüne, die derzeit umsetzen, was wir im | |
| letzten Wahlprogramm beschlossen haben, was wir dann im Koalitionsvertrag | |
| verankert haben. Der eine in der Regierung, der andere in der Fraktion. Und | |
| das, wie ich finde, in einer extrem guten Zusammenarbeit. Beinfreiheit ist | |
| etwas, was man vor allem dann braucht, wenn man etwas anderes möchte als | |
| die Partei. | |
| Ghirmai: Im Kern wird es immer darum gehen, gemeinsam ein grünes Paket auf | |
| den Tisch zu legen. Wir stehen vor großen Gerechtigkeitsfragen, über die | |
| wir als Gesellschaft aber auch als Partei dringend sprechen müssen. Der | |
| Klimaschutz muss sozial ausgestaltet, das Leben wieder bezahlbar sein. Die | |
| Schuldenbremse kann in dieser Form nicht bestehen bleiben und es muss | |
| endlich offen über die Lastenverteilung in unserer Gesellschaft, die | |
| Einführung einer Milliardärssteuer und Vermögensteuer gesprochen werden. | |
| Die Person, die vorne steht, wird dann das Programm verkörpern müssen. | |
| taz: Brandenburgs grüne Ministerin Nonnemacher hat jüngst gesagt: „Die | |
| Grünen haben das Problem, dass sie kopflastig und in vielem zu kompliziert | |
| sind.“ Sie meint auch, die Partei hätte in der Vermittlung „deutliche | |
| Probleme“. | |
| Stahr: Dass wir zu kopflastig sind, das können wir an der einen oder | |
| anderen Stelle unterschreiben. Aber die Probleme, vor denen wir stehen, | |
| sind eben auch komplex, und die Herausforderung ist, sie so anzugehen, dass | |
| die Menschen im Land sich mitgenommen fühlen. | |
| taz: Bei dieser Vermittlung aber hapert es laut Nonnemacher – und die | |
| dürfte es nach vielen Partei-, Parlaments- und Ministerinnenjahren | |
| schließlich wissen. | |
| Stahr: Ich habe tatsächlich ein Problem mit der Aussage, dass wir die | |
| Sachen bloß nicht richtig vermittelt bekommen. Man muss sich nämlich auch | |
| mal selbstkritisch fragen, ob wir in den vergangenen Monaten die richtigen | |
| Schwerpunkte gesetzt haben. Zum Beispiel war es einfach zu wenig, nur gegen | |
| die AfD zu sein, statt klar zu sagen, wofür wir stehen. Die Menschen müssen | |
| wissen: eine Stimme für grün ist eine Stimme für Klimaschutz, | |
| Transformation der Wirtschaft, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit. | |
| Ghirmai: Es ist doch eine unserer Stärken, dass wir nicht vereinfachen. Das | |
| sollten sich alle Parteien mehr zu Herzen nehmen und weniger Scheindebatten | |
| führen | |
| taz: Als den Grünen jüngst die Spitze ihres Jugendverbands abhandenkam, hat | |
| Ihre Parteifreundin Renate Künast das nicht groß bedauert: Deren Vorstand | |
| sei „nicht realitätstauglich“ gewesen. Hat sie recht? | |
| Ghirmai: Ich glaube, wir müssen es ernst nehmen, wenn sich ein Teil der | |
| Grünen Jugend in der Mutterpartei nicht mehr wiedergefunden hat. Wir haben | |
| vorhin selbst über Weichenstellungen gesprochen, von denen wir glauben, | |
| dass sie vorgenommen werden müssen, und begrüßen beide ausdrücklich, dass | |
| die große Mehrheit die Grünen nicht verlassen hat und sich weiter | |
| einbringen möchte. | |
| Stahr: Auch die Berliner Co-Vorsitzende Leonie Wingerath ist geblieben, sie | |
| ist zum Beispiel eine total wichtige Ansprechpartnerin für mich. Natürlich | |
| sind wir uns nicht immer einig. Aber ich bin trotzdem total dankbar für den | |
| guten Austausch – wie soll ich sonst wissen, was junge Menschen bewegt? In | |
| die neue Shell-Jugendstudie zu gucken ist zwar interessant, aber das reicht | |
| nicht – es braucht direkten, ehrlichen Austausch auf Augenhöhe, echtes | |
| Zuhören und Ernstnehmen. Dabei geht es nicht darum, am Ende unbedingt einer | |
| Meinung zu sein – ich bin über 40, wenn die immer so denken würden wie ich, | |
| dann würde ich mir Sorgen machen. | |
| taz: Fassen wir mal zusammen, was wir beredet haben: die Grüne Jugend | |
| dezimiert, Habeck-Debatte, Nachbar-Grüne aus dem Landtag raus und Sie | |
| selbst in der Opposition – welcher Begriff beschreibt diesen Zustand am | |
| besten? | |
| Ghirmai: Ich würde sagen: Partei in Bewegung. | |
| Stahr. Ich meine: Aufbruchstimmung. Wir haben jetzt die Chance auf einen | |
| Neuanfang. Die gilt es zu nutzen. | |
| Ghirmai: Ich finde es normal, dass man in Zeiten multipler Krisen innehält | |
| und sich fragt: Funktionieren unsere bisherigen Antworten darauf noch? Alle | |
| Parteien müssen sich fragen, ob sie wirklich die drängenden | |
| Gerechtigkeitsfragen adressieren oder nur populistische Spielchen | |
| betreiben. Der Bundesvorstand hat uns mit seinem Rücktritt die Möglichkeit | |
| dazu gegeben, uns inhaltlich und strategisch neu auszurichten und im Bund | |
| wieder in die Offensive zu kommen. | |
| taz: Ihre Oppositionszeit könnte 2026 beendet sein: CDU-Chef Kai Wegner | |
| lobt etwa bei der Verwaltungsreform auffällig oft die Grünen. Richtung | |
| aktuellem Koalitionspartner SPD klingt er nicht so nett. | |
| Ghirmai: Wir als Grüne haben uns in der Vergangenheit nie davor gedrückt, | |
| Verantwortung zu übernehmen, in den Bezirken wie auf Landesebene. Wir | |
| wollen Konzepte nicht nur entwickeln, wir wollen sie auch in der Regierung | |
| umsetzen. Das heißt, wir bereiten uns darauf vor, ab 2026 im Land Berlin | |
| wieder Verantwortung zu übernehmen. | |
| taz: Allein wird das nicht gehen – wie empfinden Sie das Lob von Wegner, | |
| [2][der ja schon länger von Schwarz-Grün schwärmt]? | |
| Stahr: Wir werden jetzt hier zwei Jahre vor der Wahl keine | |
| Koalitionsdebatten führen. Wir werden unser Programm schreiben, auf | |
| Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit setzen und dann schauen wir, mit wem | |
| wir das umsetzen können. | |
| taz: Wobei Sie, Frau Stahr, vorher zurück in den Bundestag wollen bei der | |
| Wahl 2025. Dann braucht der Landesverband wieder eine neue Chefin, weil | |
| laut Satzung anders als auf Bundesebene Amt und Mandat unvereinbar sind. | |
| Ist es nicht Zeit, das zu ändern? | |
| Stahr: Wir haben die Debatte ja angesichts meiner Person schon geführt, als | |
| ich im Dezember wieder Landesvorsitzende wurde und noch im Bundestag war. | |
| Grundsätzlich finde ich es unklug, solche Debatten anhand aktueller | |
| Personalfragen zu führen. Deshalb habe ich damals klar gesagt, dass ich das | |
| nur übergangsweise in dieser Doppelrolle mache und diese Regel als | |
| Landesvorsitzende nicht infrage stellen möchte. Das hat sich dann ja mit | |
| der Wiederholungswahl im Februar ohnehin erledigt. | |
| Ghirmai: Ich finde es unabhängig von Personen und Konstellationen | |
| grundsätzlich sehr gut, wenn Verbände Verantwortung auf mehrere Schultern | |
| verteilen. Umgekehrt gibt es ja Beispiele in anderen Parteien, wo sich | |
| alles auf eine Person konzentriert. | |
| taz: In Berlin am meisten bei der CDU: Kai Wegner ist nicht nur | |
| Regierungschef, sondern auch Parteivorsitzender und Mitglied im | |
| Abgeordnetenhaus. | |
| Ghirmai: Das erschwert eine politische Willensbildung in der Partei und | |
| birgt die Gefahr, dass schlicht die Regierungspolitik durchgestellt wird. | |
| Das funktioniert in unserer Partei nicht. Es ist eine unserer Stärken, dass | |
| wir unsere Politik gemeinschaftlich entwickeln. | |
| taz: Auf Bundesebene aber sind die bisherigen Grünen-Chefs | |
| Bundestagsmitglieder, und bei ihren mutmaßlichen Nachfolgern ist das nicht | |
| anders. | |
| Ghirmai: Ohne ihre Arbeit im Parlament mindern zu wollen: In Erscheinung | |
| getreten sind sie als Parteivorsitzende. | |
| taz: Nach Ihrem [3][ins Chaos abgedrifteten Landesparteitag Ende 2023] tat | |
| sich eine große Kluft im Landesverband auf. Und jetzt? Alles schon | |
| bereinigt? | |
| Ghirmai: Wir haben viele Gespräche geführt, unsere Beschwerdestruktur | |
| angeschaut und verbessert, und wir erleben eine Partei, die in sehr | |
| konstruktiver Zusammenarbeit ist. Für uns gilt, was für alle gelten sollte: | |
| Die politischen Zeiten sind zu ernst, als dass man in breiter | |
| Selbstbeschäftigung verweilen könnte. | |
| 21 Oct 2024 | |
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| Stefan Alberti | |
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