| # taz.de -- Reise ins deutsch-polnische Grenzland: Mit dem Meister unterwegs | |
| > Die Exkursion als fahrendes Seminar, das hat Karl Schlögel an der | |
| > Frankfurter Viadrina etabliert. Ehemalige Studierende haben nun einen Bus | |
| > gechartert. | |
| Bild: Karl Schlögel im Blick | |
| Wir freuen uns, dass der Mann an Bord ist, der uns den Osten gezeigt hat“, | |
| sagt die [1][ehemalige Studentin], deren Ausstellung über jüdisches Leben | |
| rechts und links der Oder Furore gemacht hat. Eine andere, inzwischen | |
| [2][Vizepräsidentin der Universität], spricht von einem „Star“, wegen dem | |
| viele zum Studieren erst nach Frankfurt (Oder) gekommen seien. Manche reden | |
| ganz ungeniert, wenn auch akademisch lächelnd, vom „Meister“. | |
| Eine Exkursion als Geburtstagsgeschenk für einen Professor, der ihr Denken, | |
| Forschen, Schreiben geprägt hat: Vielleicht ist das nur möglich an der | |
| kleinen, feinen [3][Europa-Universität Viadrina], an der [4][Karl Schlögel] | |
| von 1995 bis zu seiner Emeritierung 2013 den Lehrstuhl für osteuropäische | |
| Geschichte innehatte. Sein visionärer, schon vor dem Fall des Eisernen | |
| Vorhangs erschienener Essay „Die Mitte liegt ostwärts“ gibt der Exkursion | |
| den Titel. | |
| Es sind Ehemalige, die in Frankfurt in den Bus steigen. An einem sonnigen | |
| Herbsttag erwartet sie eine Exkursion ins historische deutsch-polnische | |
| Grenzland. Viele von ihnen waren und sind am [5][Institut für angewandte | |
| Geschichte] aktiv, das aus dem Lehrstuhl Schlögels heraus gegründet wurde. | |
| Manche kommen aus Berlin, andere aus Warschau oder den USA, sie sind selbst | |
| inzwischen in akademischen Weihen, forschen, lehren, vermitteln als | |
| Kulturwissenschaftler und Projektmanagerinnen Geschichte als lebendige | |
| Wissenschaft oder als „Augenarbeit“, so wie sie auch Karl Schlögel | |
| verstanden hat und versteht. | |
| Die Exkursion als sinnliches Format, als „fahrendes Seminar“, gehörte zu | |
| Schlögels Lehrveranstaltungen immer dazu. Und auch das, was einer seiner | |
| Studenten, [6][inzwischen Professor in Hagen], so nennt: „Wir haben von | |
| Karl Schlögel gelernt, die Fragen, die wir haben, groß zu stellen, aber | |
| immer auch im Kleinen, an konkreten Orten zu beantworten.“ | |
| ## Besuch in Zbąszyń | |
| Einer dieser Orte ist an diesem Tag das polnische Städtchen Zbąszyń, | |
| ehemals Bentschen. Dort strandeten im Oktober 1938 7.000 Jüdinnen und | |
| Juden polnischer Herkunft, ausgewiesen aus Nazideutschland und in Polen | |
| nicht erwünscht. Die deutsche [7][„Polenaktion“], die auch Marcel | |
| Reich-Ranicki als junger Mann erlebte, spülte sie in die Stadt an der | |
| damaligen deutsch-polnischen Grenze, deren Bewohner ihnen, zur Überraschung | |
| Warschaus, halfen. | |
| Vor Ort erfahren die Teilnehmenden, wie Hunderte der Gestrandeten in der | |
| ehemaligen Schule untergekommen sind. Eine [8][Stiftung] hat sich das | |
| [9][Erinnern an diese Zeit] zur Aufgabe gemacht, in der Zbąszyń, wie es die | |
| Zeitung Gazeta Wyborcza einmal schrieb, das „menschliche Gesicht Polens“ | |
| zeigte. Auch in den Schulen ist die Polenaktion Thema. Bei einem | |
| Spaziergang durch die Stadt zeigen Schülerinnen ihre Arbeiten zum Schicksal | |
| der jüdischen Familie Wajman, zu der sie forschen. | |
| Ort und Geschehen zusammendenken, die Geschichte nicht nur als Abfolge von | |
| Ereignissen begreifen, sondern vor Ort mit Händen greifen, ihre Spuren | |
| verfolgen, die Steine zum Sprechen bringen können: Früh schon hat Schlögel | |
| das Tabu, das lange auf der deutschen Beschäftigung mit „Raum“ lag, | |
| beiseite geschoben und einen „Spatial Turn“ in den Kulturwissenschaften mit | |
| befördert. Paradigmatisch in diesem Sinne waren auch seine Bücher. Eines | |
| trägt den Titel: „Im Raume lesen wir die Zeit“. | |
| Wie der Leser durch die Seiten eines Buches blättert sich der Bus durch den | |
| Text einer historischen Landschaft. Und der „Meister“, unzugänglich in | |
| seiner Art manchmal und dennoch tief gerührt, hat am Ende das letzte Wort: | |
| „Meine Generation“, sagt Karl Schlögel auf der Rückfahrt, „ist nach ihr… | |
| Aufbrüchen 1968 und 1989 noch einmal kalt erwischt worden. Selbst wenn wir | |
| es wollten, können wir uns nicht zurücklehnen. Wir müssen noch einmal in | |
| die Arena steigen.“ | |
| Nicht nur Russlands Krieg in der Ukraine meint Karl Schlögel in diesem | |
| Moment, sondern auch den Zustand Europas. Auf der Oderbrücke zwischen dem | |
| polnischen Słubice und Frankfurt steht ein Beamter der Bundespolizei. Der | |
| Fahrer hält, der Beamte schaut in den Bus, dann winkt er durch. | |
| 26 Oct 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.kuwi.europa-uni.de/de/professuren-mitarbeitende/denkmalkunde/te… | |
| [2] https://www.europa-uni.de/de/universitaet/gremien/praesidialkollegium/vizep… | |
| [3] https://www.europa-uni.de/de/index.html | |
| [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Schl%C3%B6gel | |
| [5] https://www.instytut.net/ | |
| [6] https://de.wikipedia.org/wiki/Felix_Ackermann | |
| [7] https://www.jmberlin.de/thema-polenaktion-1938 | |
| [8] https://www.tres.org.pl/ | |
| [9] https://www.tres.org.pl/blog/wwwzbaszyn1938pl-portal-%C5%82%C4%85cz%C4%85cy… | |
| ## AUTOREN | |
| Uwe Rada | |
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