| # taz.de -- Gewerkschaftsarbeit im Einzelhandel: Beraten, verkaufen, streiken | |
| > Niedrige Löhne und hohe Belastung prägen oft den Einzelhandel. Die | |
| > Gewerkschafterin Phuc Chu Thi Hong setzt sich seit Jahren für bessere | |
| > Bedingungen ein. | |
| Bild: Filiale der Modekette COS am Ku'damm, der Arbeitsplatz von Phuc Chu Thi H… | |
| Berlin taz | Als sich Phuc Chu Thi Hong 2010 in der COS-Filiale am | |
| Kurfürstendamm bewirbt, hat sie eigentlich nicht vor, mehr als zehn Jahre | |
| dort zu arbeiten. Chu Thi Hong, in Vietnam geboren und in Brandenburg | |
| aufgewachsen, ist damals 24 Jahre alt und studiert Modedesign in Berlin. | |
| COS ist eine schwedische Modemarke und Teil der H&M-Gruppe. „Das war ein | |
| Unternehmen, von dem ich überzeugt war“, sagt sie. „Ich stand hinter der | |
| Ware, die ich verkauft habe.“ | |
| Heute ist Chu Thi Hong 38 Jahre alt – und arbeitet nun schon seit 14 Jahren | |
| bei COS. [1][In dem Geschäft am Kurfürstendamm hat sie 2015 den ersten | |
| Betriebsrat von COS] in Berlin gegründet und jahrelang dessen Vorsitz | |
| übernommen. Bei Verdi ist sie leidenschaftliche Gewerkschafterin und war in | |
| den vergangenen Jahren immer wieder an Streiks im Einzelhandel beteiligt. | |
| Über ihre ersten Jahre bei COS sagt sie heute: „Ich bin damals reingegangen | |
| mit dem Gedanken: ‚Dieses Unternehmen ist anders‘ – und wurde eines | |
| Besseren belehrt.“ | |
| Ende 2023 waren [2][in Berlin laut Arbeitsagentur rund 120.000 Menschen im | |
| Einzelhandel beschäftigt,] knapp 60 Prozent davon Frauen und fast die | |
| Hälfte in Teilzeit. Auch Chu Thi Hong wird zunächst als studentische | |
| Hilfskraft mit zehn Wochenstunden angestellt. Fortan berät sie Kund*innen, | |
| macht den Verkauf und verräumt die Ware. Sie arbeitet nicht zum ersten Mal | |
| im Einzelhandel und weiß: Wer hier durchhalten will, muss belastbar sein. | |
| „Man hat fast immer mehr Arbeit, als man eigentlich schafft“, sagt Chu Thi | |
| Hong. Trotzdem kommt sie gut im neuen Job an. Mit dem Team versteht sie | |
| sich gut, auch die Beratung macht ihr Spaß: „Das sind immer schöne | |
| Momente für mich, wenn ich einen Kunden glücklich machen kann.“ | |
| Mit der Zeit merkt Chu Thi Hong jedoch, dass die Dinge nicht so laufen, wie | |
| sie es sich erhofft hatte. Immer weniger Mitarbeiter*innen seien | |
| angestellt worden, während der Pandemie seien viele Kolleg*innen in | |
| Kurzarbeit geschickt worden. Von ihrem Team habe man jede Menge | |
| Flexibilität erwartet. „Einsatzpläne wurden oft so kurzfristig erstellt, | |
| dass man kaum einen Termin beim Arzt machen konnte, weil man nicht wusste, | |
| wann man eingesetzt wird“, erzählt sie. | |
| ## Wer durchhalten will, muss belastbar sein | |
| Über sich selbst sagt Chu Thi Hong: „Mir ist es sehr wichtig, dass | |
| Gerechtigkeit herrscht.“ Deshalb habe sie auch nie verstanden, warum sie | |
| als Studierende in den Frühschichten eingesetzt wurde – Mütter hingegen, | |
| die die Frühschichten wegen der Kinderbetreuung gebraucht hätten, nicht. | |
| „Das war für mich einer der Gründe, weswegen ich den Betriebsrat gegründet | |
| habe.“ | |
| Chu Thi Hong und ihre Kolleg*innen nehmen Kontakt zu einem Betriebsrat | |
| von COS in Stuttgart auf, um sich über den Ablauf der Gründung zu | |
| informieren. E[3][nde 2015 findet dann am Ku'damm die Betriebsratswahl | |
| statt], Chu Thi Hong wird Vorsitzende. Seither setzt sie sich für eine | |
| faire Personaleinsatzplanung ein. | |
| Werden Absprachen vom Arbeitgeber nicht eingehalten, lehnt der Betriebsrat | |
| Einsatzpläne auch mal ab. Angestellte sind nicht dazu verpflichtet, nach | |
| einem abgelehnten Einsatzplan zu arbeiten – „trotzdem hat der Arbeitgeber | |
| uns phasenweise die Löhne gekürzt, wenn die Mitarbeiter*innen nicht | |
| zur Arbeit angetreten sind“, erzählt Chu Thi Hong. Rechtmäßig ist das nicht | |
| und man kann theoretisch den vollen Lohn einklagen. In der Praxis gestaltet | |
| sich das allerdings schwierig. „Bis man das geschafft hat, können Jahre | |
| vergehen. Und längst nicht jeder von uns hat eine | |
| Rechtsschutzversicherung.“ Zuletzt habe man sich deshalb auf einen | |
| Kompromiss geeinigt. | |
| ## Männer verdienen im Schnitt mehr als Frauen | |
| Kurz nach der Betriebsratsgründung wird Chu Thi Hong Verdi-Mitglied und | |
| engagiert sich ehrenamtlich. Seit acht Jahren ist sie Teil der | |
| Tarifkommission. Wegen der Inflation reiche das Gehalt im Einzelhandel kaum | |
| noch zum Überleben, sagt sie. Laut einer [4][Analyse] der | |
| gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung liegt der mittlere Bruttolohn für | |
| Vollzeit-Beschäftigte mit zehn Jahren Berufserfahrung bei 2.470 Euro – | |
| wobei Männer im Schnitt neun Prozent mehr als Frauen verdienen. | |
| Für Chu Thi Hong war daher immer klar, dass sie sich an [5][Streiks im | |
| Einzelhandel] beteiligen wird. Anfangs war sie die einzige streikende | |
| Mitarbeiterin aus einem Berliner COS-Store, doch seit der Pandemie habe sie | |
| immer mehr Kolleg*innen davon überzeugen können, mitzukommen: „Letzten | |
| Herbst haben wir es sogar einmal geschafft, dass der Laden für zwei Stunden | |
| schließen musste“, erzählt sie stolz. | |
| Laut Verdi haben seit vergangenem Jahr Beschäftigte aus mehr als 250 | |
| Einzelhandelsbetrieben [6][in Berlin und Brandenburg über 55 Streiktage] | |
| organisiert. Im Juli einigten sich Arbeitgeber*innen und | |
| Gewerkschaften schließlich auf einen Tarifvertrag: Bis 2026 wird der | |
| Lohn in drei Schritten erhöht, zusätzlich gibt es einen Inflationsausgleich | |
| von bis zu 1.000 Euro. Inklusive Altersvorsorge beträgt die Erhöhung etwa | |
| 14 Prozent. | |
| Für Chu Thi Hong ist das kein echter Erfolg: „Unsere Tarifkommission hatte | |
| eine Laufzeit von zwölf Monaten gefordert“, sagt sie. Auch die | |
| Inflationsprämie sieht sie kritisch: „Im Kleingedruckten steht sinngemäß: | |
| Wer in Elternzeit ist, wer dieses Jahr neu eingestellt wurde und noch keine | |
| sechs Monate beschäftigt ist, bekommt keine Inflationsprämie. | |
| Teilzeitbeschäftigte bekommen sie nur anteilig – was im Endeffekt eine | |
| Benachteiligung von Müttern und Frauen ist.“ | |
| Als COS-Betriebsrätin und Verdi-Gewerkschaftsmitglied habe sich ihr | |
| Arbeitsalltag „komplett verändert“, sagt Chu Thi Hong: „Davor habe ich | |
| Kunden beraten, jetzt habe ich einen Bürojob.“ Manchmal vermisse sie die | |
| Arbeit im Verkauf. Sie will deshalb versuchen, dort einen Tag pro Woche zu | |
| arbeiten. „Um weiter den Kontakt zu den Kolleginnen zu behalten, aber auch, | |
| weil es mir einfach Spaß macht.“ | |
| Wie lange sie noch im Einzelhandel arbeiten will, weiß Phuc Chu Thi Hong | |
| noch nicht. „Ich bin langsam an einem Punkt, an dem ich nicht mehr viel | |
| Neues lerne – außer im Betriebsrat“, sagt sie. Vom Ziel, Modedesignerin zu | |
| werden, habe sie sich mittlerweile verabschiedet.„Ich möchte lieber einen | |
| Mehrwert schaffen, das habe ich in dem Bereich irgendwann nicht mehr | |
| gesehen.“ Die Arbeit im Betriebsrat und in der Gewerkschaft hätten sie als | |
| Person sehr geprägt: „Als ich hier angefangen habe, war ich super | |
| schüchtern und viel weniger selbstbewusst als heute – und ich hinterfrage | |
| die Dinge viel stärker als früher.“ | |
| 13 Oct 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Vorteile-fuer-Gewerkschaftsmitglieder/!6020239 | |
| [2] /DGB-Beschaeftigtenbefragung/!6022516 | |
| [3] /Vorteile-fuer-Gewerkschaftsmitglieder/!6020239 | |
| [4] https://www.wsi.de/fpdf/HBS-008827/ap_lohnspiegel_verkaeufer_innen.pdf | |
| [5] /Tarifkonflikt-im-Einzelhandel/!5964338 | |
| [6] /Arbeitskampf-im-Einzelhandel/!5950323 | |
| ## AUTOREN | |
| Clara Zink | |
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