# taz.de -- Vorstand über 100 Jahre Rote Hilfe: „Wir müssen jetzt zusammenh… | |
> Seit 100 Jahren unterstützt die Rote Hilfe linke Gruppen. Ein Gespräch | |
> mit Vorstand Henning von Stoltzenberg zum Jubiläum in Zeiten des | |
> Rechtsrucks. | |
Bild: Bitterer Scherz: In Sträflingskleidung sammelt ein Aktivist am 1. Mai 19… | |
taz: [1][Vor 100 Jahren wurde die Rote Hilfe gegründet], um staatlichen | |
Repressionen gegen Linke etwas entgegenzusetzen. Ist das Jubiläum am 1. | |
Oktober für Sie ein Grund zum Feiern? | |
Henning v. Stoltzenberg: Natürlich! Wir sind eine bundesweite, linke | |
Solidaritäts- und Schutzorganisation. In über 50 Städten leisten unsere | |
Ortsgruppen und unsere Unterstützer:innen großartige Arbeit. Wir | |
werden von der Bewegung getragen und durch Spenden unterstützt und können | |
so ein Gegengewicht zu sich rasant entwickelnden staatlichen Repressionen | |
und dem Rechtsruck sein. Das ist ein Grund zu feiern. Obgleich das | |
natürlich auch heißt, dass es uns weiter braucht, weil Gesetze verschärft | |
werden, weil es massive Polizeigewalt gibt, weil Aktivist:innen aus | |
politischen Gründen im Gefängnis sitzen. Dagegen kämpfen wir seit 100 | |
Jahren an und werden es noch tun, solange es nötig ist. | |
taz: Wie steht es heute um den Stand der Repression gegen linke | |
Gruppierungen? | |
Stoltzenberg: Die Repressionsentwicklung bezeichnen wir als rasant. Wer | |
hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass die Letzte Generation, die sich | |
friedlich auf Straßen setzt, [2][zur kriminellen Vereinigung erklärt] wird? | |
Dass die Generalstaatsanwaltschaft München die [3][Internetseite der | |
Letzten Generation sperrt], dass bundesweit Wohnungen durchsucht werden? | |
Oder die Auslieferung der Antifaschist:in Maja: Klar rechtswidrig! Das | |
passiert einfach, obwohl es einen [4][anderslautenden Beschluss des | |
Bundesverfassungsgerichts gibt]. Es ist die normative Kraft des Faktischen, | |
die sich die Behörden immer öfter leisten, sie tun Dinge einfach. Damit | |
wird die Polizei aus unserer Sicht immer öfter zum politischen Akteur. | |
taz: Sie sagen, die Polizei als Institution verfolgt eigenständige | |
politische Ziele? | |
Stoltzenberg: Wir beobachten in Antifa-Prozessen, dass Beamt:innen | |
teilweise Verbindungen nach rechts haben und ein klares Eigeninteresse | |
zeigen, gegen Linke und Antifaschist:innen vorzugehen. Da werden | |
[5][Neonazis Sachen zugespielt]. Da verschwindet eine große Anzahl an | |
Patronen, die dann später mutmaßlich [6][in den Händen von Rechten wieder | |
auftauchen]. Da ist sehr viel im Argen. Man spürt das auch auf | |
Demonstrationen, wo manchmal einfach Sachen verboten werden, ohne dass es | |
dafür eine Rechtsgrundlage gibt. Wenn man sich nach dieser erkundigt, | |
werden Beamt:innen auch frech und sagen, „ich brauch keine“. Was | |
natürlich falsch ist, aber sie sagen, „im Zweifelsfall haben wir unsere | |
Knüppel und hinterher werden wir sowieso nicht belangt“. Das ist ein | |
Problem! | |
taz: Welche Rolle spielt in dieser Entwicklung die zunehmende | |
gesellschaftliche Isolation der Linken? In den letzten Jahren sind | |
bürgerliche Parteien und die Bevölkerung spürbar nach rechts gerückt. | |
Stoltzenberg: Natürlich gibt es eine starke gesellschaftliche | |
Polarisierung. Aber auf der anderen Seite ist es auch so, dass viele Leute | |
sich zu uns hin bewegen, weil sie verstehen, dass in Zeiten des Rechtsrucks | |
die Solidarität stärker werden muss. Das führt dazu, dass wir mehr Spenden | |
bekommen, dass sich immer mehr Menschen entscheiden, [7][der Roten Hilfe | |
beizutreten]. Das ist wichtig, denn wir müssen jetzt zusammenhalten, damit | |
es uns gelingt, die Verhältnisse perspektivisch wieder zu drehen und wieder | |
einen größeren Spielraum, mehr progressive Inhalte und Freiheitsrechte zu | |
erkämpfen. | |
taz: Wächst die Unterstützung und Akzeptanz der Roten Hilfe auch im | |
linksliberalen Spektrum? | |
Stoltzenberg: Den Eindruck habe ich ganz stark. Klar, nicht immer gefällt | |
allen alles, was in unseren Broschüren steht. Aber es gibt eben viele | |
Bereiche – der Kampf gegen rechts, der Klimabereich –, wo ein Verständnis | |
dafür wächst, dass wir nützliche Tipps anzubieten haben: Geht nicht zu | |
Vorladungen, es sei denn, sie kommen von der Staatsanwaltschaft. Verweigert | |
die Aussage. Lasst euch solidarische Anwält:innen vermitteln. Das nützt | |
ja allen Bewegungen – und deshalb halten wir Vorträge sowohl bei | |
Antifastrukturen als auch bei der Grünen Jugend. Und das finden wir super | |
so! | |
taz: Weil es – Sie haben schon die Letzte Generation angesprochen – heute | |
schneller geht, mit dem eigenen Aktivismus ins Visier der Behörden zu | |
geraten? | |
Stoltzenberg: Ja. Heute kann es alle treffen. Du musst nicht mehr klassisch | |
militante Aktionsformen wählen. Es kann dich treffen, einfach weil du dich | |
mit einem Schild auf die Straße setzt und protestierst. Dann kann gegen | |
dich – wie bei der Letzten Generation – eine bundesweite Hetzkampagne | |
gestartet werden, die dir vorwirft, [8][du würdest Rettungskräfte | |
behindern]. All das stimmt wahrscheinlich gar nicht, aber das kann über | |
dich hereinbrechen – und da braucht es dann eine kollektive Verteidigung | |
und Zusammenhalt. Das verstehen immer mehr Menschen. | |
taz: Der Leitspruch der Roten Hilfe ist: Gegen staatliche Repression müssen | |
alle zusammenstehen, unabhängig, zu welcher Gruppe man gehört oder welche | |
Analyse man hat. Linke sind ja aber sehr gut darin, sich gegenseitig das | |
Linkssein abzusprechen. Wie definiert denn die Rote Hilfe, wer zur Linken | |
dazugehört? | |
Stoltzenberg: Es ist mir nicht möglich, allumfänglich zu definieren, was | |
links ist. Entscheidend ist für uns zunächst einmal ein linkes | |
Selbstverständnis. Und dann haben wir [9][unsere Satzung, wo einige Dinge | |
festgelegt sind]: Das Eintreten für die Interessen der | |
Arbeiter:innenklasse, gegen Faschismus, Rassismus, Patriarchat, | |
Kriegsgefahr, auch gegen Antisemitismus. Wenn du dich dafür einsetzt, ist | |
die Chance, von uns unterstützt zu werden, sehr hoch. | |
taz: Derzeit zerfleischt sich die Linke vor allem am Nahostkonflikt. Wie | |
versucht die Rote Hilfe, in dieser Frage strömungsübergreifend zu bleiben? | |
Stoltzenberg: Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt zunächst einmal auf der | |
Situation hier in Deutschland. Und da sehen wir, wie diese Proteste, die | |
weitestgehend – wenn auch nicht immer – von Gruppen mit linkem und | |
fortschrittlichem Selbstverständnis getragen werden, massiv | |
[10][angegriffen und niedergeknüppelt] werden. Wie auf Demos verboten wird, | |
bestimmte Slogans oder sogar bestimmte Sprachen zu sprechen. In Berlin hat | |
der Senat den gewalttätigen Angriff auf Lahav Shapira zum Anlass genommen, | |
[11][ein neues Hochschulgesetz] durchzusetzen, durch das auch | |
fortschrittliche Kräfte exmatrikuliert werden können – ohne, dass es dafür | |
ein richterliches Urteil wegen eines Vergehens bräuchte. Das ist eine | |
Ausweitung von Repression, die auch andere soziale Bewegungen treffen wird. | |
Heute geht es um Palästinasolidarität, morgen vielleicht darum, dass man | |
was gegen die AfD gesagt hat. | |
taz: Kurz nach dem 7. Oktober hat die Rote Hilfe dem PFLP-nahen | |
„Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene“, Samidoun, die | |
Solidarität entzogen. Die Berliner Ortsgruppe hat diese Entscheidung | |
öffentlich kritisiert. Wo sind in Sachen Palästina-Solidarität die roten | |
Linien der Roten Hilfe? | |
Stoltzenberg: Bei der Entscheidung, Aktivist:innen zu unterstützen, | |
halten wir uns stark an unsere Satzung, die Antisemitismus ausschließt. Bei | |
Unterstützungsfällen gucken wir uns deshalb immer den Einzelfall und den | |
Gesamtkontext an, bevor wir eine Entscheidung treffen. Das heißt, wir | |
teilen natürlich nicht den Pauschalvorwurf des Antisemitismus gegen die | |
palästinasolidarische Bewegung, aber wir sind sensibilisiert und gucken | |
genau hin. Das führt manchmal – wie mit der Berliner Ortsgruppe – zu | |
starken Diskussionen und Kontroversen. Aber das heißt nicht, dass wir nicht | |
mehr zusammenarbeiten. Es ist eine fortlaufende Diskussion, die so lange | |
nicht abgeschlossen sein wird, wie es die Solidaritätsbewegung und die | |
Repression gibt. | |
taz: Im Interesse der gesamten politischen Linken: Was ist das | |
Erfolgsrezept, sich nicht zu zerspalten? | |
Stoltzenberg: Ich glaube, wir versuchen, immer das große Ganze zu sehen. | |
Dass die Rote Hilfe für alle linken und fortschrittlichen Menschen ein | |
unglaublich wichtiger Anker ist, dass wir diese Verantwortung annehmen | |
müssen, auch wenn man sich mal über Aussagen ärgert. In der Roten Hilfe | |
kommen viele Menschen zusammen, die sich sonst inhaltlich nicht finden | |
würden – und die dann feststellen, dass es eben auch geht, zu einem | |
bestimmten Punkt zusammenzuarbeiten. Klar, es knallt auch manchmal, aber es | |
geht. Das ist aus unserer Sicht ein Erfolgskonzept für linke Arbeit. | |
taz: Was erwarten Sie, wie wird sich die Repression in den nächsten Jahren | |
weiterentwickeln? | |
Stoltzenberg: Was ich befürchte – obwohl es gerne anders kommen darf – ist, | |
dass die Repressionen gegen die migrantische Linke, vor allem gegen | |
Kurd:innen, weiter fortschreiten wird. Zum Beispiel die Tendenz, dass | |
Deutschland – wie kürzlich im Fall Kenan Ayaz – auch im Ausland [12][im | |
Dienste der Türkei kurdische Politiker:innen verfolgt]. Dann werden | |
Wahlerfolge der AfD Proteste gegen rechts auslösen, die erwartungsgemäß | |
durch staatliche Repression sanktioniert werden. Es wird um die Erhaltung | |
unserer politischen Grundrechte gehen, um fortschrittliche Kultur, | |
Interkulturalität, queere Strukturen. Das sind alles Sachen, die in Gefahr | |
sind, weshalb wir in den nächsten Jahren unterstützend an der Seite der | |
Bewegungen kämpfen werden, so gut wir können. | |
1 Oct 2024 | |
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