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# taz.de -- Der Ethikrat verabschiedet sich: Auf unbestimmte Zeit verreist
> Ein alter Reclam-Band bleibt. Kann „Epiktet. Handbüchlein der Ethik“ den
> Ethikrat ersetzen? Ein Abschied von drei älteren Herren geringer Größe.
Bild: Dieser Tee muss jetzt ohne den Ethikrat getrunken werden
Kürzlich klingelte es morgens, und als ich verschlafen die Tür öffnete,
stand der Ethikrat vor mir. Der Rat, das sind drei ältere Herren von
geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik
geben. Der Rat trug Koffer, die mit kariertem Stoff bespannt waren und
Strohhüte mit Bändern aus dem gleichen Stoff. „Oh“, sagte ich, „verreis…
Sie?“
„Wir sind gekommen, um uns zu verabschieden, Frau Gräff“, sagte der
Ratsvorsitzende. „Sind Sie länger weg?“, fragte ich und dachte, dass es
ungerecht war, dass der Rat immer das tat, was er wollte, während ich immer
noch nach so etwas wie einer Bestimmung fahndete. „Wir brechen für
unbestimmte Zeit auf“, sagte eines der Mitglieder, das in der Regel
schwieg. „Wir haben Ihnen etwas mitgebracht“, sagte das andere Mitglied und
streckte mir einen verblichenen Reclam-Band entgegen: „Epiktet.
Handbüchlein der Ethik“.
„Vielen Dank“, sagte ich. „Aber was bedeutet unbestimmte Zeit? Sie können
mich doch nicht allein lassen.“ Der Ethikrat betreute mich seit vier
Jahren, wobei Betreuen ein großes Wort für sein irrlichterndes Auftauchen
war. Aber er war in seiner herben Art mein Trost an grau-schwarzen Tagen
und ich wollte mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.
Der Kater kam an die Tür, gefolgt von den Kindern, die den Ethikrat
interessiert betrachteten. „Warum gerade jetzt?“, fragte ich. „Es wird
immer komplizierter, Krisen überall, wirklich überall, und die Verlockung,
sich aus allem herauszuziehen, wird immer größer. Da können Sie nicht
gehen.“
## Die Freundlichkeit der Hühner
Ich guckte in den Garten, wo bis vor ein paar Tagen die beiden Hühner der
Nachbarn gemeinsam durch die Beete gewandert waren. Manchmal, wenn eines
plötzlich merkte, dass das andere nicht mehr in Sichtweite war, war es zu
ihm gerannt, mit gestreckten gelben Beinen. Mittwochnacht war ein Marder in
den Hühnerstall gekrochen und hatte eines tot gebissen. Das andere hatte
noch zwei Tage überlebt, aber dann war es in einem so erbärmlichen Zustand,
dass die Nachbarn es töteten.
Es geschehen derzeit weitaus schlimmere Dinge, aber die Freundlichkeit der
Hühner war unvermutet und jenseits meines Zutuns in mein Leben getreten und
ebenso daraus verschwunden. Was sollte werden, wenn schon der Hühnerstall
schwankte? „Ich wollte Sie doch meiner Mutter und meinem Bruder
vorstellen“, sagte ich zum Rat. „Sie nehmen Anteil an meinem
philosophischen Weg und ich wollte Sie alle zu Tee und Kuchen einladen.“
Ich schluckte und vielleicht fing ich auch an zu weinen, wer weiß das schon
so genau.
„Aber Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende und tätschelte vorsichtig
meinen Arm. „Wir bleiben für Sie erreichbar.“ „Wir haben ein Postfach
eingerichtet“, sagte eines der Mitglieder, die in der Regel schweigen und
reichte mir einen Zettel. „Postfach Ethikrat 007“, stand darauf in
schnörkeliger Schrift.
„Wohin gehen Sie denn jetzt?“, fragte ich, um von meinem Geheule
abzulenken. „Zunächst reisen wir nach Nikopolis“, sagte der Vorsitzende.
„Wir wollen den Ort kennenlernen, wo Epiktet lehrte. Wussten Sie, dass er
im Alter das Kind eines armen Freundes aufnahm und mit einer Amme aufzog,
um es vor dem Ausgesetztwerden zu bewahren?“ „Nein“, sagte ich. „Warum
nehmen Sie mich nicht auf, wenn Epiktet das kann? Ich bin philosophisch
gesprochen auch ausgesetzt.“
„Epiktet lässt Sie dazu folgendes wissen, Frau Gräff“, sagte der
Vorsitzende und blätterte in meinem Reclam-Band: „Du hast die Lehren
empfangen, denen du beipflichten solltest, und du hast ihnen
beigepflichtet. Auf was für einen Lehrer wartest du nun noch.“ „Auf Sie“,
wollte ich sagen, aber der Rat gab mir die Hand, nickte den Kindern zu,
tätschelte den Kater und dann schloss sich die Tür langsam hinter ihm.
9 Oct 2024
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
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