| # taz.de -- Eingestürzte Carolabrücke: Ideologie der schlanken Schönheit | |
| > Minimierter Materialverbrauch, maximale Spannweiten: Erzählen gut 200 | |
| > Jahre Ingenieurskunst nicht auch eine Geschichte der Einsturzgefahr? | |
| Bild: Eingestürzt unterm Blick des Engels: die Carolabrücke in Dresden, im Vo… | |
| Es ist eine klassische Übung der Bauingenieursausbildung: Man erhält ein | |
| großes Blatt kräftiges Papier, DIN A2 oder A3. Daraus soll eine maximal | |
| weit spannende Brücke konstruiert werden, die eine volle Cola-Büchse tragen | |
| kann. Ein Riesenspaß, sei jeder Schule empfohlen. Am Ende tragen oft | |
| wenigstens einige Konstruktionen eine Zeit lang die Cola-Büchse. Bis auch | |
| nur ein Parameter der Versuchsanordnung geändert wird. Dann brechen auch | |
| diese Brücken meistens ein. | |
| Nicht zum ersten Mal kam die Erinnerung an diese Übung auf, als in der | |
| vergangenen Woche die [1][Dresdner Carolabrücke einbrach]. Eine in der | |
| DDR-Ingenieursgeschichte berühmte Konstruktion, entworfen 1966 vom | |
| Kollektiv Eckhart Thürmer, Rolf Berger und Michael Franke aus drei bis zu | |
| 120 Metern messenden Hohlkästen mit Spannbetondurchlaufträgern. Kaum eine | |
| Viertelstunde vor dem Einsturz war noch eine Straßenbahn über die | |
| Carola-Brücke gefahren, blankes Glück, dass niemand zu Schaden kam. | |
| Ähnliches Glück hatten die Menschen im chinesischen Qiandongnan im August, | |
| als ihre Brücke einstürzte, oder in Cevio im schweizerischen Kanton Tessin, | |
| wo Ende Juni die hochelegante Bogenbrücke über die Maggia von einem | |
| Hochwasser zerstört wurde. Unsere Berichterstattung darüber ist dann gerne | |
| kulturell und politisch gesteuert: Wenn wie in Russland im April oder in | |
| Indien im vergangenen August Brücken mit teils vielen Opfern einstürzen, | |
| wird das als Zeichen des Entwicklungsrückstands gesehen. | |
| ## Berichterstattung ist kulturell gelenkt | |
| Als in den USA hingegen im März die gewaltige, aus Stahl konstruierte | |
| Francis Scott Key Bridge in Baltimore zusammenbrach, wurde der angebliche | |
| Niedergang der Weltmacht beschworen. Einstürze in der reichen Schweiz oder | |
| im superreichen Norwegen allerdings gelten als Teil von | |
| Naturkatastrophen. Doch alle diese Brücken sind eigentlich gebaut worden, | |
| um auch schlimmste Fluten zu überstehen. Fast immer steht am Beginn eines | |
| Einbruchs mangelnde Pflege des Baus. | |
| Wie viele Brücken tatsächlich in den vergangenen Jahren zerstört wurden, | |
| kurz vor Einbruch noch schnell abgeräumt werden konnten oder nach der | |
| Reparatur stehen blieben, ist unbekannt. Auch die viel kolportierte Zahl | |
| von 16.000 Brücken, die allein in Deutschland dringend saniert werden | |
| müssen – was etwa 11 Prozent des Gesamtbestands von ungefähr 140.000 | |
| Brücken entspricht –, ist nur eine Hochrechnung. Allein die Deutsche Bahn | |
| mit ihren etwa 25.000 Brücken und die Autobahnverwaltung haben | |
| Zentralregister, sonst sind die Zuständigkeiten denkbar zersplittert | |
| zwischen dem Bund, den Ländern, Städten und Kreisen. | |
| Zweifellos gibt Deutschland zu wenig Geld für die Instandhaltung | |
| öffentlicher Güter aus. Es gibt aber noch andere Gründe für das | |
| Brückenproblem. Einer davon ist die Kultur der Konstruktion. Allein von | |
| den „Bundesbrücken“ sind mehr als 70 Prozent als Spannbetonkonstruktionen | |
| in den Boomjahrzehnten zwischen 1965 und 1985 entstanden. Und so wie für | |
| das Kollektiv Thürmer/Berger/Franke 1966 in Dresden waren auch für die | |
| EntwerferInnen dieser Brücken neben der schieren Standfestigkeit und den | |
| Kosten drei Gestaltungsparameter zentral: minimierter Materialverbrauch, | |
| maximale Spannweiten, klar sichtbares Zeigen des Kräfteverlaufs innerhalb | |
| der Konstruktionen. Die herrlich schlanken, weit gespannten, zarten Brücken | |
| des Schweizers Robert Maillart wie jene im graubündischen Schiers sind das | |
| Ideal. | |
| Seit etwa 1830 entwickelte sich vor allem in Frankreich, Italien und | |
| Deutschland eine regelrechte [2][Ideologie des Ingenieur-Baus,] die auf | |
| einen Satz gebracht werden kann: Weniger ist mehr. Mit den neuen | |
| Materialien Eisen, Stahl und Stahlbeton und der nun mit Vehemenz | |
| entstehenden, mathematisch-wissenschaftlich begründeten Baustatik waren | |
| schlanke Querschnitte und Konstruktionsspannweiten möglich, die alles bis | |
| dahin Denkbare in den Schatten stellten. | |
| ## Hyperschlanke Konstruktionen des Viollet-le-Duc | |
| Der französische Architekt, Architekturtheoretiker, Denkmalpfleger und | |
| Konstruktionshistoriker Eugène Viollet-le-Duc empfahl seinen | |
| Ingenieurskollegen hoch ragende, lichtdurchflutete gotische Kathedralen | |
| oder Kapitelsäle von Klöstern als historisches Vorbild für den Stein- und | |
| Eisenbau, hyperschlanke Konstruktionen, die sich etwa in den Säulen der | |
| Bibliothèque nationale von Henri Labrouste aus den 1840er Jahren | |
| spiegelten. | |
| Die atemberaubend hoch gespannte Brücke von Mostar, überhaupt die schwebend | |
| erscheinenden Bauten des osmanischen [3][Architekten Sinan] aus dem 16. | |
| Jahrhundert wurden zur Ingenieurslegende. Schnell entwickelte sich eine | |
| eigene Ingenieursästhetik: Als Gustave Eiffel seinen Pariser Turm in den | |
| Zwickeln zwischen den Standbeinen mit schmückenden Blechverkleidungen | |
| versah, um Traditionalisten gnädig zu stimmen, kritisierten ihn viele | |
| Fachkollegen: Das sei doch gelogen. | |
| Allerdings sollte der Eiffelturm nur kurze Zeit stehen. Das Dogma des | |
| Sparens hat nämlich eine zweite Seite: die des Wegwerfens. Die allermeisten | |
| Konstruktionen gerade der Nachkriegszeit waren nur für eine Haltbarkeit von | |
| 50 bis 70 Jahren gedacht. Römische oder mittelalterliche Brücken dagegen | |
| sind aus moderner Sicht völlig überkonstruiert, haben viel zu viel Steine | |
| für viel zu kleine Spannweiten verbraucht. Doch gerade das macht sie auch | |
| resilient. Selbst schwere Hochwasser überstehen solche Brücken. Sie können | |
| auch vergleichsweise leicht repariert werden, weil immer nur ein kleiner | |
| Teil des Baus von Schäden betroffen ist. | |
| Ganz anders moderne Brücken: Sie müssen ständig gepflegt werden, sonst | |
| greifen Korrosion und Erschütterung schnell die Standfestigkeit an. | |
| Jahrhunderte der Vernachlässigung waren für einen römisch-antiken Pont du | |
| Gard keine Gefahr – drei Jahrzehnte neoliberaler Geiz gefährden aber in | |
| Deutschland die gesamte Infrastruktur. Für die Nachhaltigkeit kann mehr | |
| tatsächlich mehr sein. | |
| 18 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nikolaus Bernau | |
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