# taz.de -- Demografie in Russland: Frauen als Gebärmaschinen | |
> Russlands Bevölkerung schrumpft. Manche Abgeordnete fordern deshalb eine | |
> „demografische Spezialoperation“. Jetzt will der Staat durchgreifen. | |
Bild: Spezial-Operation: Eine russische Hochzeitszeremonie auf der Bühne am 24… | |
Moskau taz | Da sitzt er, „unser Junge“. Aus den USA nach Russland | |
zurückgekehrt, sich als Freiwilliger für die Front in der Ukraine gemeldet, | |
klare Vorstellungen von seiner Angebeteten: „eine Patriotin mit | |
traditionellen Werten, bloß keine Feministin, keine Liberale“, sagt der | |
Mann, blauer Anzug, erstarrtes Lächeln, im hell erleuchteten Fernsehstudio. | |
Sergei, 43, wird am Ende mit Alina von dannen ziehen, das Publikum dem | |
„Prachtkerl“ und seiner „langbeinigen Blondine“ applaudieren. „Verges… | |
nicht, den Domostroi“ zu lesen, wird ihnen die Moderatorin der Show, eine | |
gealterte sowjetische Film-Diva, zurufen. Der Domostroi ist ein | |
Gesetzeskodex aus der Zeit Iwan des Schrecklichen, der Prügelstrafen für | |
die Ehefrau empfiehlt und vor allem in russischen Kirchenkreisen bis heute | |
als vorbildlich gilt. | |
Die Unterhaltungsshow „Lass uns heiraten!“ läuft täglich im russischen | |
Staats-TV. Seit Jahren lässt sich dabei ablesen, wie die Geschlechterrollen | |
im Land immer noch gesehen werden: die Frau als Heimchen am Herd, die ihre | |
„natürliche Aufgabe“ der Kinderaufzucht erfüllt, der Mann als Versorger, | |
der bitte stets eine saubere Wohnung und den Borschtsch auf dem Essenstisch | |
vorfinden soll. | |
Seit einiger Zeit sitzen immer mehr „SWO-Teilnehmer“, wie Russland seine | |
Kämpfer im Feldzug gegen die Ukraine bezeichnet, im Studio und zeigen, | |
welche Geschlechterrollen der Staat vorsieht: Frau als Mutter, Mann als | |
Soldat. Dafür kommen immer mehr staatliche Maßnahmen zum Tragen, zumal sich | |
das Land am „Rand zur Demografiegrube“ sieht. | |
## Geringere Lebenserwartung | |
Russland schrumpft, nicht erst seit dem Überfall auf die Ukraine. Eine | |
ähnlich niedrige Geburtenrate wie in westeuropäischen Ländern trifft hier | |
auf eine viel geringere Lebenserwartung. Mittlerweile wird die | |
„demografische Senke“ in den geburtenschwachen 1990er Jahren deutlich, die | |
der Krieg noch verschärft. | |
Die ohnehin wenigen 25- bis 30-Jährigen, die Kinder bekommen könnten, sind | |
entweder im Krieg, ausgewandert oder haben schlicht keine Lust aufs | |
Kinderkriegen, weil ihnen die Zukunft als viel zu ungewiss erscheint und | |
die finanzielle Lage als unsicher. | |
„Die Jungen haben viel zu sehr auch das schöne, freie Leben gerochen und | |
wollen sich selbst verwirklichen“, sagen mehrere Abgeordnete, allesamt | |
Frauen. Das will der Staat ändern. Nina Ostanina, die 68-jährige | |
Vorsitzende des Familienschutz-Ausschusses in der Staatsduma, fordert eine | |
„demografische Spezialoperation“, nach der jede zweite Familie in Russland | |
eine kinderreiche Familie mit vier bis fünf Kindern werden soll. | |
Ihre Kollegin Tatjana Buzkaja sagt: „Wir müssen [1][die jungen Frauen | |
zwingen zu gebären].“ Dabei sollen Arbeitgeber*innen in die Pflicht | |
genommen werden und einen „Koeffizienten der Geburtenrate von Angestellten“ | |
zusammenstellen. Das erinnert stark an die Menstruationspolizei zu Zeiten | |
des Diktators Nicolae Ceausescu in Rumänien, als Frauen an ihrem | |
Arbeitsplatz gynäkologisch untersucht wurden. Das beste Alter zum | |
Kinderkriegen, so Buzkaja, sei 18, 19 Jahre, quasi direkt nach dem | |
Schulabschluss. So könnten die Frauen im Lauf ihres Lebens mehr Kinder | |
bekommen. | |
## Ganz klares Übel | |
Die Biologieprofessorin Maria Wedunowa aus Nischni Nowgorod identifiziert | |
ein ganz klares Übel: „Die Menschheit hat einen großen Fehler gemacht, | |
indem sie die Ausbildung von Frauen zuließ. Wenn Frauen Karriere machen, | |
wer soll denn dann Kinder auf die Welt bringen?“, fragte sie in einem | |
Interview 2023 und sah sich, vor allem in den sozialen Netzwerken, einem | |
Shitstorm ausgesetzt. | |
Doch auch Senator*innen, Abgeordnete oder Menschen auf der Straße finden | |
nicht selten, dass „die Mädchen zu viel Freiheit“ hätten und | |
„Hochschulbildung zu nichts“ führe. Die Funktion junger Frauen, so sagt es | |
auch Margarita Pawlowa, Senatorin aus Tscheljabinsk, liege im | |
„Kinderkriegen, nicht in der Ausbildung“. | |
Russlands Präsident Wladimir Putin will „Kinderreichtum“ zum „neuen | |
Lebensstil“ machen, wie er im vergangenen Jahr sagte, bevor er 2024 zum | |
„Jahr der Familie“ erklärte. Ihm schweben sieben, acht oder gar mehr | |
KInder“ vor, wie er immer wieder gern sagt. Das seien „ausgezeichnete | |
Traditionen unserer Großmütter und Großväter“. Abtreibungen sollen in | |
staatlichen Kliniken nach und nach untersagt werden. | |
Frauen in Russland wird immer mehr die Rolle als Gebärmaschine aufgebürdet. | |
Die Kirche mahnt sie zur Mutterschaft, das Fernsehen zeigt sie als | |
Anhängsel des Ehemanns, der Staat will mit ihnen das demografische Problem | |
lösen. Schon [2][in den Schulen lernen Jugendliche im neuen Fach | |
„Familienführung]“, dass eine kinderreiche Familie Pflicht sei. Der | |
Erzpriester Andrei Tkatschow erzählt bei seinen Predigten, dass eine Frau, | |
die ihre Brust nicht zum Stillen benutze, gar nicht erst hätte geboren | |
werden sollen. | |
## Einzimmerwohnungen stören | |
Die Staatsduma hat eine „russlandfremde Child-free-Bewegung“ ausgemacht und | |
will alle, die die „Kinderlosigkeit propagieren“, mit hohen Bußgeldern | |
bestrafen. Vor einer Scheidung sollen die Noch-Eheleute verpflichtend | |
psychologisch beraten werden. | |
Selbst Einzimmerwohnungen stören. Würden sie verboten, so meint der Senator | |
Anatoli Schirokow, entstünde sofort eine „demografische Revolution“. Kaum | |
einer, der laut nach Kinderreichtum schreit, hat selbst – offiziell – mehr | |
als zwei Kinder. | |
1 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Inna Hartwich | |
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